Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Simmern feiert Die Reise nach Wien

Im Pro-Winzkino Simmern sahen gestern (22.10.2023) 80 begeisterte Gäste den frühen Reitz-Film Die Reise nach Wien anlässlich des 50. Jubiläums seiner Uraufführung in den Post-Lichtspielen. Auf der Homepage des Pro-Winzkino war, nachdem die Veranstaltung zwischenzeitlich schon in den größeren Saal 1 verlegt worden war, „ausverkauft“ zu lesen, mehr Menschen hätte der Raum 9, in dem der anschließende Brunch stattfand, nicht aufnehmen können. Initiiert und organisiert wurde die Veranstaltung (wie berichtet) vom Hunsrück-Museum Simmern in der Reihe REITZreflexiv, die das Schaffen von Edgar Reitz vor seinem Welterfolg HEIMAT beleuchtet.

Zu Beginn seines einführenden Vortrages bedankte sich Thomas Hönemann, Betreiber und Autor dieser Seiten, für die Einladung, es sei ihm Ehre und Vergnügen gleichzeitig, in die laut Thomas Koebner „riskanteste und gelungenste Komödie, die in Deutschland in den 1970er Jahren inszeniert wurde“ einzuführen. Sein von Zuschauern als aspektreich, fundiert und unterhaltsam gelobter 45minütiger Beitrag1 befasste sich mit folgenden Themen:

  • Einordnung des Filmes in das Lebenswerk von Edgar Reitz
  • die Situation der „Oberhausener“ 1973: noch immer dominierte der „alte Film“ den Markt
  • Entstehungsgeschichte des Filmes und reale Vorbilder
  • Reitz‘ erste Wiederbegegnung mit dem Hunsrück, 20 Jahre nach seinem Abitur in Simmern und Weggang nach München
  • ein Film mit Starbesetzung
  • Zusammenarbeit mit dem Gloria Filmverleih, dessen Chefin Ilse Kubaschewski als „Schnulzenkönigin“ verschrien war
  • Kürzungen in der Kino- und TV-Fassung und Rolltitel des wdr im Abspann
  • Die künstlerische Handschrift des Edgar Reitz und Parallelen zu HEIMAT
  • Frauen im Dritten Reich und eine Komödie über die Nazi-Zeit
  • Rezeption und Kritik des Filmes 1973 und bei Veröffentlichung der digital restaurierten Fassung 2009

Bemerkenswert war dabei u. a., dass die Frage nach der Identität der Freundin von Reitz Mutter Maria, mit der sie damals nach Wien gereist ist, mithilfe des Morbacher Heimatforschers Berthold Staudt sicher geklärt werden konnte, in seinem Archiv findet sich sogar ein Bild der beiden Freundinnen – ebenso wie eine Abbildung des feierlichen Empfangs des Morbachers Erich Schuster, Ritterkreuzträger der Fallschirmtruppe. Erstaunen löste auch die Information aus, dass für die Rolle der Marga, des alter ego von Reitz Mutter, ursprünglich Romy Scheider vorgesehen war, die schließlich aber mit der Begründung ablehnte, dass sie nur absolute Hauptrollen zu spielen bereit sei, in dem Film aber zwei gleichgroße weibliche Hauptrollen vorkommen. Für empörtes Erstaunen sorgte zudem der aus Reitz Autobiographie zitierte Versuch des Filmverleihs, das Zuschauerinteresse durch einen inszenierten Skandal zwischen Reitz und seiner Mutter zu steigern. Begeistert wurden wiederum die vielen filmischen Parallelen zu HEIMAT, illustriert durch originale Szenenbilder, aufgenommen.

Hönemann wies aber darauf hin, dass auch ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen Der Reise nach Wien und HEIMAT bestehe: „Was aber deutlich anders als in HEIMAT ist, ist die fehlende Konsequenz im Hinblick auf die Verwendung des örtlichen Dialektes, des durch HEIMAT berühmt gewordenen Hunsrücker Platt. In der Reise nach Wien schwätzt jeder, wie ihm der Mund gewachsen ist. Und so gibt es eine merkwürdige Mischung aus dem Hochdeutsch der beiden Hauptrollen, dem Eifel-Kölsch von Mario Adorf, dem Wiener Dialekt und dem Hunsrücker Platt, das die mit Einheimischen besetzten Rollen sprechen, allen voran Tante Hilde, gespielt von Frieda Wolf, und der Obergefreite, gespielt von Heinz Baumgarten, der uns ja auch später in HEIMAT als Fritz aus der Bochumer Verwandtschaft wieder begegnet.“

Babylonisches Sprachgewirr: Hannelore Elsner, Elke Sommer und Frieda Wolf in Die Reise nach Wien © ERFilm

Als Vorfilm wurde noch eine kurzer Super 8-Amateurfilm, der bei den Dreharbeiten in Simmern entstanden war, gezeigt. Während der Vorführung des Hauptfilmes zeigte das Publikum immer wieder sehr lebhafte Reaktionen, vom herzhaften Lachen über die Komik des Filmes bis hin zu Tuscheleien über Drehorte oder im Zusammenhang mit den Dreharbeiten Erlebtes – unter anderem war auch Ingrid Isermann anwesend, die nicht nur in Die Reise nach Wien die Braut des Ritterkreuzträgers, sondern auch in HEIMAT die Frau des Gauleiters und in HEIMAT 3 die Frau des Ortsbürgermeisters darstellte. Eine interessante Filmkarriere.

Nach dem Brunch in Raum 9 bot sich die Gelegenheit für Fragen und eigene Geschichten zu dem Film, der rege genutzt wurde. Betont wurde unter anderem, dass nicht nur die persönliche Krise infolge des Scheiterns des Schneider von Ulm (Details dazu siehe hier) als Wegbereiter für HEIMAT anzusehen ist, sondern ebenso Die Reise nach Wien, weil, auch wenn es seinerzeit zunächst bei einem distanzierten Verhältnis blieb, Edgar Reitz dadurch die Verbindung zu seiner Heimat und somit seinen Wurzeln wieder aufnahm.

Auch zur Sprache kam, wie es Mario Adorf in einer Szene gelingen konnte, auf den Punkt genau zu erröten: Ingrid Litzenberger, zu Zeiten der Dreharbeiten als Auszubildende in einer Simmerner Apotheke tätig, war Zeugin, wie sich Adorf bei der Auswahl einer Rheumasalbe beraten ließ. Nachdem er später die Salbe getestet hatte konnte er dem Drehteam genau sagen, ab wann die Kamera zu laufen hatte.

Heiterkeit bereitete auch die Geschichte von dem Ehepaar, das im Frühjahr 1973 nach Simmern reiste, um zu schauen, ob die Stadt als zukünftiger Wohnort infrage käme. Sie hatten sich ausgerechnet das Wochenende ausgesucht, an dem die Innenstadt komplett für den Dreh des Empfangs des Ritterkreuzträgers mit Nazi-Beflaggung ausgestattet worden war. Der Legende nach sollen sie trotzdem nach Simmern gezogen sein.

Rudolf Hoidn, der seinerzeit 13 Jahre alt war, erinnerte sich, wie anlässlich der Premiere Edgar Reitz, Mario Adorf und Hannelore Elsner mit einem Sonderzug nach Simmern gereist kamen und durch die abgesperrte Innenstadt mit einer Kutsche zu den Post-Lichtspielen gefahren wurden. Für den „harten Kern“ der Reitz-Begeisterten bot er, in seiner Freizeit als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Hunsrück-Museums tätig, anschließend noch eine Visite im Edgar Reitz Filmhaus sowie einen Rundgang durch die Stadt zu den Drehorten der Reise nach Wien an.

Schließlich noch einige Bildimpressionen vom Wochenende:


Fußnoten
  1. Leider kann der Vortrag hier aufgrund der vielen enthaltenen urheberrechtlich geschützten Materialien (z. B. Bilder aus der Morbacher Ortschronik, Auszüge aus der Autobiographie von Edgar Reitz) nicht veröffentlich werden. []