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Rezension: Reiseführer in das Werk von Werner Herzog

„Eine Welt ist nicht genug“ hat Dr. Josef Schnelle (Jg. 1949), Filmkritiker und Festivalkurator (Festival des deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein) seinen „Reiseführer in das Werk von Werner Herzog“ genannt, der im September 2021 (heimat123.de berichtete) im Schüren-Verlag erschien.

Titel und Untertitel deuten es bereits an, es handelt sich hier nicht um eine gewöhnliche, chronologisch strukturierte kommentierte Bio- und Filmographie. Viel mehr als um das Abarbeiten von Daten geht es Schnelle darum, den inneren roten Faden, den Geist in und von Herzogs Weg aufzuspüren, und dies sowohl jenseits der formalen Grenze zwischen fiktiven und dokumentarischen Filmen als auch der verschiedensten Schaffensperioden Herzogs. Denn dies macht er deutlich: Herzog hat in den fünfzig Jahren seines Schaffens als Autor, Regisseur und Darsteller nicht erst seinen Stil finden oder entwickeln müssen, er ist sich vielmehr sowohl inhaltlich als auch ästhetisch stets in seiner Eigenart und Authentizität stets treu geblieben.

Das Buch setzt bei der Auszeichnung Herzogs für sein Lebenswerk beim Europäischen Filmpreis in Berlin 2019 an und stellt fest, dass Herzog, der seit Mitte der 1990er Jahre in Los Angeles lebt, international wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahre (vom Time-Magazine wurde er 2009 beispielsweise zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gekürt) als in seinem Heimatland, wo viele seiner jüngsten Werke nicht einmal im Kino gezeigt wurden. Auf publizistischer Ebene möchte Schnelle erklärtermaßen diese Aufmerksamkeitslücke schließen, wobei er nicht nur über 40 Jahre Erfahrung als Filmkritiker und eine „umfangreiche Werkkenntnis“ (S. 11) einbringt, sondern auch Verknüpfungen mit der zeitgenössischen Philosophie sowie den politischen und kulturellen Zeitgeist herstellt, „so wie sie im Werk Herzogs immer wieder angeregt werden“ (ebd.) „Also entsteht diese kritische Liebeserklärung aus der Erkenntnissuche, die dieses Buch hervorrufen soll, und ist eine im Wortsinne überfällige Einordnung in die Traditionslinien des deutschen Films, in der sich das Weltbürgertum und die Persönlichkeit Werner Herzogs wiederfinden sollen.“ (S. 12)

Das reich illustrierte Buch eröffnet nach einem Kapitel über Herzogs seinerzeit jüngsten Film, Family Romance, LLC (2019), mit einem vom Autor geführten Interview, das sich im Kern um eben diesen Film dreht und überdies die Frage nach der Spiritualität in seinen Filmen und die Selbstdarstellung Herzogs sowohl „fürs Familienalbum“ (Werner Herzog eats his shoe und Vom Gehen im Eis, seine Wanderung von München nach Paris zur vermeintlich im Sterben liegenden Lotte Eisner) als auch als Darsteller und Synchronstimme in verschiedenen Filmen aufwirft. Anschließend geht er auf Herzogs persönliche Eigenheiten ein (Wer bin ich? Rollen der Selbst(er)findung) und stellt dann anhand eines Ausflugs in die frühe deutsche Filmgeschichte (Ein Mann mit Geschichte und Geschichten) heraus: „Murnau und [Carl] Mayer sind für Herzog neben Fritz Lang die wichtigsten Referenzen aus der deutschen Filmgeschichte.“ (S. 35)

Im Hauptteil des Buches nähert sich Schnelle dem Kern der Arbeit Herzogs an: Auf Reisen in die Unterwelt der Seele führe Herzog uns in verschiedene, häufig extreme Regionen der menschlichen Psyche. (vgl. S. 42) Er verdeutlicht dies an Beispielen wie Grizzly Man und seine Gespräche mit zum Tode Verurteilten in On Death Row bzw. Into the Abyss, um anschließend über Bad Leutenant schnell und unweigerlich zu den fünf Filmen mit Klaus Kinski zu kommen, von denen jeder für sich eine Gratwanderung am Rande des Wahnsinns sei. Besonders ausführlich beschäftigt er sich mit Aguirre – Der Zorn Gottes, Herzogs erster Zusammenarbeit mit Kinski. Des Weiteren werden in diesem Kontext die Filme Herz aus Glas (in Zusammenarbeit mit Herbert Achternbusch) und My son, my son, what have you done? (mit David Lynch) behandelt.

Unter der Überschrift Hochmut kommt vor dem Fall widmet sich Schnelle zunächst ausführlich Herzogs wohl ehrgeizigstem und aufwändigstem Film Fitzcarraldo, gleichzeitig seinem mit Abstand gewagtesten Projekt am Rande aller Vernunft – oder eben die „Eroberung des Nutzlosen“, wie Herzog seinem Protagonisten in dem Mund legt und schließlich auch seine literarische Verarbeitung der Dreharbeiten betitelt. Auch sein neues Projekt Fordlândia, Aguirre – Der Zorn Gottes und Invincible ordnet Schelle diesem Motiv zu.

Im Kapitel Die Katastrophen und das Naturschöne geht es zunächst um „Untersuchungen am offen Herzen von Katastrophen“ (S. 80), nämlich La Soufrière, Into the Inferno, Fireball und Lektionen in Finsternis, sowie extreme Landschaften wie in The Wild Blue Yonder, Die Höhle der vergessenen Träume, Wo die grünen Ameisen träumen und Salt and Fire, wobei er schließlich auch in diesem Kontext auf die Eingangssequenz von Herz aus Glas und insbesondere auf die Bedeutung und Darstellung des Dschungels in Aguirre und Fitzcarraldo verweist.

Als vollkommene Grenzüberschreitungen bespricht er schließlich die frühen Filme Fata Morgana und Auch Zwerge haben klein angefangen, Jeder für sich und Gott gegen alle über das Leben Kaspar Hausers, Woyzeck und Stroszek, nicht ohne auch in diesem Zusammenhang wiederholt auf Aguirre und Fitzcarraldo zu verweisen.

Unter der Überschrift Augen kann man nicht kaufen (zitiert nach dem Titel von Peter Buchkas Buch über Wim Wenders) behandelt der Autor die drei Kameramänner, mit denen Herzog zusammengearbeitet hat: Thomas Mauch, Jörg Schmidt-Reitwein und Peter Zeitlinger, jeweils mit ihren charakteristischen Eigenheiten und in ihrem Einfluss auf das Werk Herzogs. Wie auch bei den später behandelten Filmmusikern – Florian Fricke (Popol Vuh) und Ernst Reijseger – stellt er eine tiefe, geradezu seelische Verbindung mit Herzog im Hinblick auf die ästhetischen Vorstellungen fest.

Dazwischen folgt – eingeleitet mit einem Verweis auf Chris Markers Sans Soleil (aus dem im übrigen auch Edgar Reitz im einleitenden Kapitel Sichtbares und Unsichtbares des frühen Bildbandes HEIMAT – Eine Chronik in Bildern (1985) zitiert), Herzogs kritische Haltung zum Cinéma verité und seine darauf gründende Minnesota-Erklärung – ein Kapitel über die Dokumentarfilme, die Herzog gedreht und meist auch kommentiert hat, von Die fliegenden Ärzte von Ostafrika (1969) bis Meeting Gorbachev (2018).

Der abschließende Komplex des Buches widmet sich den Themen Spiritualität und Wunder, in dem Schnelle, zurückgreifend auf das eingangs abgedruckte Interview, noch einmal ausführlich auf Die Höhle der vergessenen Träume eingeht, um von dort über The wild blue Yonder auf die Wunder des Alltags zu kommen, wie er sie in Fitzcarraldo, Little Dieter needs to fly bzw. Rescue Dawn, Julianes Sturz in den Dschungel und anderen erzählt hat, ein Gesamtwerk als vielfältiges Kaleidoskop des „homo spiritualis“, das deutlich macht, ein Leben ist nicht genug, und „[e]ine Welt ist nicht genug für Herzogs ruhe- und rastlose Suche nach der ‚ekstatischen Wahrheit‘ unseres Lebens.“ (S. 141)

Den Abschluss des Buches bildet eine umfangreiche illustrierte und kommentierte Filmographie.

Ein kurzweiliges, unterhaltsames und kompetent geschriebenes Buch, das fundierte Einsichten in Werner Herzog und sein Werk bietet und Lust darauf macht, sich noch intensiver damit zu befassen – womit der Autor seinem Anspruch, das Interesse anzuregen und mit wohlfeil sortierten Informationen zu füttern, gerecht wird. Dabei verliert der Autor bei aller Sympathie für Herzog und sein Werk nie die professionelle Distanz. Etwas störend wirken die teils auftauchenden Wiederholungen von Filminhalten, die aber dem Konzept der thematischen Strukturierung geschuldet sind und somit ermöglichen, die Kapitel auch isoliert zu lesen, ohne dass allzu umfangreiche Querverweise notwendig sind.

Interessant und sehr lesenswert!

Thomas Hönemann (www.heimat123.de), 13.01.2022

Dem Verlag sei herzlich für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars gedankt.


bibliographische Daten

Josef Schnelle: Eine Welt ist nicht genug. Ein Reiseführer in das Werk von Werner Herzog, Marburg (Schüren) 2021, ISBN 978-3-7410-0372-1, 176 Seiten, 19,80 €

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