Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Münchner Impressionen

Am vergangenen Wochenende stellte Edgar Reitz in München seine jüngst erschienene Autobiographie vor und präsentierte die digital restaurierte Zweite Heimat. Selbst das Wetter hatte sich für das Kino und gegen die „Wies’n“ entschieden. Die gut besuchte Astor Lounge im ARRI Kino präsentierte sich im Sonntagsgewand und schuf einen würdigen Raum für Begegnung und Begeisterung.

Am Samstag begann mit einer von Christiane Schleindl (Film-Expertin und Leiterin des Filmhaus Nürnberg, in dem 2018 die bisher größte Reitz-Retrospektive stattfand) moderierten Einführung mit Edgar und Christian Reitz, in der Edgar Reitz unter anderem in besonders tiefgehender Weise den Wechsel zwischen Schwarz-Weiß und Farbe erläuterte (siehe hier). Danach wurden die ersten beiden Filme gezeigt. In jedem Moment war spürbar, mit wie viel Aufwand und Hingabe die Digitalisierung geschehen war, sodass viele Besucher/innen geradezu in einen Rausch der Bilder verfielen, der in den Pausen Anlass zum gemeinsamen schwärmerischen Austausch bot. Das Publikum zeigte sich als harmonische Mischung aus vor oder hinter der Kamera Beteiligten (so trafen sich z. B. Edgar Reitz und Robert Busch, der seit 20 Jahren in Frankreich lebt, nach langer Zeit wieder – Reitz: „Robert war damals meine rechte und meine linke Hand und der Engel des Teams“), Familie, Freunden und Förderern von Edgar Reitz (beispielsweise war Tochter Susanne mit ihrem Mann Daniel Smith aus Amsterdam angereist, und Reitz‘ gute Freundin Margarethe von Trotta und der inzwischen 93jährige Günter Rohrbach gaben sich die Ehre) und einer Vielzahl interessierte Liebhaber des Reitzschen Werkes, teilweise für die Veranstaltung sogar eigens aus dem Ausland angereist.

Rowan Charlton mit Edgar Reitz

Wieder einmal war schön zu sehen, dass auch immer wieder begeisterte junge Menschen das Werk von Edgar Reitz für sich entdecken. Ein in Chicago lebender Exildeutscher hatte beispielsweise Die andere Heimat bei Netflix entdeckt und daraufhin aus Begeisterung über den Film begonnen, das weite Feld des Reitz’schen Werkes „von hinten aufzurollen“. Ein anderer war eigens aus England angereist: Rowan Charlton (29) hat eine ganz besondere Beziehung zu den Filmen, die er für die Besucher/innen von heimat123.de in einem ausführlichen Essay beschreibt (eine deutsche Übersetzung seines Textes finden Sie hier).

Am Abend des ersten Tages stellten sich die anwesenden Darsteller und Teammitglieder dem Publikum vor:

Robert Busch, Christian Reitz, Michael Seyfried (Ansgar), Daniel Smith (Juan), Henry Arnold (Hermann), Edgar Reitz, Salome Kammer (Clarissa), Frank Röth (Stefan), Peter Weiß (Rob)

Der Höhepunkt des Wochenendes war zweifellos die Buchvorstellung und Lesung am Sonntagmittag. Gunnar Schmidt, Verlagsleiter des Rowohlt-Verlages, war eigens zu diesem Anlass aus Berlin angereist und führte die Besucher mit inhaltlichem Tiefgang und in äußerst würdigender Weise in das Buch ein:

Beim Lesen von Filmzeit, Lebenszeit, schärfen sich die Sinne gerade für solch existenzielle Fragen, wie das Ich entsteht, wie es zu dem wird, was es ist, wie die Sprache und die Bilder zur Welt kommen, wie sich die gesamte Erfahrungswelt eines Menschen bildet; es geht nicht allein um biographische Stationen, sondern um Selbstwerdung, um Sehnsucht, um Wehmut, Erinnern und Vergessen, Werden und Vergehen, Zeit- und Überzeitliches, Fiktion und Wirklichkeit. Kurz: Diese Erinnerungen sind, wenn man so möchte, ein großes Nachdenken über das Leben. Was Ulrich Mattes einmal über die Filme von Edgar Reitz gesagt hat, gilt nicht weniger für dieses Buch: „Es ist berührend, poetisch, politisch.“

Das anschließende Werkgespräch mit Edgar Reitz war nach meiner Einschätzung eines der Besten je miterlebten, nicht nur, weil Edgar Reitz sich einmal mehr in exzellenter Erzähllaune zeigte und der Anlass eine große Themenvielfalt nahelegte, sondern auch dank der kompetenten und Raum schaffenden Gesprächsführung von Gunnar Schmidt, der es trotz der Vielfalt der angesprochenen Aspekte verstand, einen feinen roten Faden zu spinnen und sich immer wieder ebenso flexibel wie einfühlsam auf Reitz einging. Ergänzt wurde das Gespräch dadurch, dass Henry Arnold in fesselnder Weise Ausschnitte aus der Autobiographie vortrug: Das einleitende Kapitel „Erwachen“, das Kapitel über das Erzählprinzip seines Großvaters Matthias, die berühmte Episode um die ARRI-Kamera sowie – zur allgemeinen Erheiterung ob der enthaltenen Pointen – über „Das Auto, das eine Göttin war“, einen Citroën DS 21 Décapotable oder kurz „die DS“, die wir auch als Requisite aus den Filmen kennen, weil Hermann in HEIMAT aus München mit der DS zur Beerdigung seiner Mutter anreist und in Die Zweite Heimat damit mit seiner kleinen Tochter Lulu zur Zugspitze fährt. Und Vadim Glowna fährt die Göttin in Reitz‘ Beitrag Der Grenzposten zum Omnibus-Film Deutschland im Herbst.

Befragt dazu, wie HEIMAT überhaupt möglich gewesen sei („Es war die Liebe zum Kino, aus der heraus ich HEIMAT immer wieder gemacht und gedacht habe.“), und zur aktuellen Situation des deutschen Filmes findet Edgar Reitz (nach einem dankbaren Rückblick an die Adresse von Günter Rohrbach: „ohne den wdr hätte es den Neuen Deutschen Film nicht gegeben“) einmal mehr deutliche Worte in Richtung der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten: Sie spielen „für die ästhetische Entwicklung des deutschen Films heute nur noch eine fatale Rolle, keine produktive mehr.“

Schmidt berichtet auch sichtlich beeindruckt über die intensive Zusammenarbeit mit Edgar Reitz in der Phase der Entstehung des Buches, die oftmals in Form nächtlicher E-Mail-Kommunikationen stattfand. Er habe ihn auch einmal nach dem Geheimnis seine großen Vitalität gefragt: „Wenn ich etwas abgeschlossen hatte, habe ich nie lange Pausen gemacht; während eines Projekts hatte ich nie das Gefühl zu altern, immer nur dazwischen.“, war Reitz‘ Antwort. Somit liege, so Schmidt, natürlich die Frage nahe, ob er neue Pläne habe. „Es gibt ein Projekt, an dem ich seit zehn Jahren „herummache“, und ich habe ein bisschen Hoffnung, dass ich das noch hinkriege.“, gibt sich Reitz bedeckt aber zuversichtlich. Wir dürfen gespannt sein.

Das Publikum brachte abschließend dem sichtlich gerührten Edgar Reitz seine Begeisterung mit minutenlangem stehendem Applaus zum Ausdruck. Umrahmt wurde die Buchvorstellung durch musikalische Beiträge von Salome Kammer, vorher gemeinsam mit Henry Arnold am Piano (Wölfelied und Zwei fremde Augen) sowie nachher mit Maria Reiter am Akkordeon (die Eigenkreation „Rei(t)zend“ nach einer Musik von Friedrich Hollaender).

Die Schlange bei der anschließenden Signierstunde nahm kein Ende, und seine persönliche Assistentin Anna Malike Eigl unterstützte Edgar Reitz in rührender Weise dabei, die vielen Wünsche nach Autogrammen und Widmungen zu erfüllen.

Allen, die das Buch noch nicht besitzen, sei die Anschaffung wärmstens empfohlen.

Am Sonntagnachmittag gab es noch eine ganz besondere Überraschung: Der Philosoph und bekennende HEIMAT-Liebhaber Prof. Christoph Jäger (Berlin und Innsbruck) beschrieb in einem kurzen Vortrag, wie seine Faszination für HEIMAT entstanden sei, und gab seine Antwort auf die Frage, was aus Sicht des Philosophen die große Faszination, die „große erzählerische und ästhetische Strahlkraft“ des HEIMAT-Epos ausmache. Dazu benannte er die folgenden Grundmotive:

Prof. Christian Jäger
  • Die Wechselwirkung zwischen großem und kleinem: „In HEIMAT spiegelt sich Zeitgeschichte in kleinen, individuellen Lebensgeschichten (…) bis hinein in psychische Mikrostrukturen der Akteure – und umgekehrt: Große historische Linien werden getragen von individuellen Geschichten.“
  • „HEIMAT tastet sich an die Tiefen und an die Tragik der menschlichen Existenz heran und versucht, begrifflich schwer zu fassenden Dingen auf künstlerische Weise nachzuspüren.“
  • Die Zeit: Der Filmkunst von Edgar Reitz gelinge es in einzigartiger Weise, ebenso behutsam und leise wie treffsicher und machtvoll die „Wahrheiten zumindest eine Zeitlang dem Abrutschen zu entreißen in die Gemeinschaft dessen, was nie war und niemals sein wird.“

Edgar Reitz ließ es sich nicht nehmen, Jägers Ausführungen zum Aspekt der Zeit zu ergänzen: Das Erinnern im Rahmen seiner Arbeit an der Autobiographie, das Schreiben über Vergangenes führe doch immer wieder auch zur Frage des Vergessens. „Erinnern ist nicht wie ein Videorekorder (…), sondern wir stehen vor einem Scherbenhaufen von Gedächtnisbrocken, das ganze Leben ist eigentlich in der Vergangenheit gesehen ein unübersehbarer Trümmerhaufen, und wenn wir uns erinnern setzen wir aus diesen Teilen unser Leben neu zusammen. Das Leben in der Erinnerung ist also eigentlich eine Fiktion.“ Im Erinnern und Erzählen schaffen wir also „eine Parallelwelt, wir erzeugen eine Welt, in der die Zeit nicht vergeht. Denn wir können über sie verfügen, wir haben die Macht zu erzählen. Erzählen ist eine Macht mit der Zeit umzugehen.“ Er definiere daher Zeit wie folgt: „Die Zeit ist der Ort der Erinnerung, ist der Ort, an dem Geschichte überhaupt erst entsteht. Im Leben gibt es keine Geschichten, und das ist das Widersprüchliche; es wird ja immer gesagt, das Leben schriebe die schönsten Geschichten. Jeder Erzähler weiß, dass das überhaupt nicht wahr ist, es bedarf einer Menge Arbeit eine gute Geschichte zu schreiben, und es bedarf auch eines bestimmten Talentes und Interesses, überhaupt zu erzählen. Die Leidenschaft am Erzählen ist die Leidenschaft, die Zeit zu bekämpfen und die Zeit aufzuheben, eine Welt zu schaffen, in der die Zeit menschlich ist, wo also unsere Sehnsucht eine Rolle spielt, wo wir diesen Seufzer Goethes verwirklichen: „Verweile doch!“. Dieses „Verweile doch!“ ist der einzige Anlass zur Kunst.“

Am Sonntagabend verließen die Besucher von Anregungen und Eindrücken erfüllt den Saal, und viele von ihnen hätten sicher am liebsten gleich weitergeschaut. Für diejenigen, die in München oder Umgebung leben, besteht ab heute an jedem Montag und Freitag (wöchentlich wird zweimal der gleiche Film gezeigt) die Gelegenheit, die Filme von Teil 6 bis 13 weiter zu schauen. Eine weitere Gelegenheit, Edgar Reitz zu erleben und die Zweite Heimat in der Neufassung zu sehen, wird spätestens am dritten Novemberwochenende in Simmern sein. In diesem Zusammenhang wird am 20.11. auch das Edgar Reitz-Filmhaus eingeweiht werden.

Alle, die in München dabei sein konnten, werden dieses intensive, eindrucksvolle Wochenende sicherlich lange in dankbarer Erinnerung behalten. Allen Beteiligten, insbesondere Edgar Reitz, Salome Kammer, Henry Arnold, Christiane Schleindl und Gunnar Schmidt und auch den Mitabeiter(inne)n des Kinos, das einen würdigen Rahmen abgab, sei von Herzen für ihr Engagement gedankt. Es ist großartig, so etwas in dieser doch recht atemlosen und oberflächlichen Zeit erleben zu dürfen. Von ganzem Herzen also:

DANKE

Thomas Hönemann, 19.09.2022

Schließlich noch einige weitere Bildimpressionen: