Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

„Kino mit Vollpension“: Die Zweite Heimat in Simmern

Am vergangenen Wochenende wurde im Simmerner Pro-Winzkino die komplette Zweite Heimat in der neuen, digital restaurierten Fassung aufgeführt. Einen Film wie Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend auf der großen Leinwand zu sehen ist stets ein Genuss, das Besondere hier war die dichte Abfolge der Filme: 25 1/2 Stunden Filmgenuss in nur drei Tagen verlangten einerseits gutes Sitzfleisch, ermöglichten aber, so die einhellige Erfahrung aller Beteiligten, ein wundervoll tiefes Eintauchen in den erzählerischen Fluss der Filme. Schon nach den ersten Filmen sprachen wir von einem Sog, der sich spürbar entfaltete und Lust und Neugierde auf mehr machte.

Ablaufplan der drei Tage „Kino mit Vollpensioni“ (zum Vergrößern auf das Bild clicken)

Das Kinoerlebnis entpuppte sich zudem alsbald auch als höchst dynamisches Gruppenerlebnis. Die vom Pro-Winzkino-Team gut kalkulierten Pausen öffneten den Raum für intensiven Austausch, in den jeder, unabhängig vom persönlichen Hintergrund, sich einbringen konnte und aus denen jeder – gerade aufgrund der unterschiedlichen intellektuellen Hintergründe der Zuseher – viele neue, inspirierende Informationen und Anregungen mitnehmen konnte. Besonders sei dabei beispielhaft die (nach HEIMAT 3 im September) erneute Anwesenheit von Bernd-Rainer Hellrung aus Bremerhaven erwähnt, der nicht nur ein profunder Literaturkenner und cineastischer Ästhet ist, sondern auch eine große, ansteckend wirkende Leidenschaft zur Auseinandersetzung über die jeweils persönlichen Eindrücke mitbringt. Mit seiner ebenfalls mit angereisten älteren Tochter hatte er die Filme vor 30 Jahren im Zeughauskino in Berlin zum ersten Mal gesehen und war stellenweise überrascht darüber, wie sehr sich die damaligen Eindrücke in seiner Phantasie verselbstständigt hatten. Andere Besucher sahen in Simmern Die Zweite Heimat zum ersten Mal vollständig.

Die 20 Menschen zählende Gruppe wies eine schöne Mischung von Einheimischen und teils von weit her angereisten. Nach Bremerhaven sind noch zwei Damen aus dem niederländischen Nijmegen zu erwähnen, die in Simmern bereits 2018 HEIMAT 3 gesehen hatten, sowie ein weiteres Vater-Tochter-Duo aus Gießen und Bad Nauheim. Aus dem engeren HEIMAT-Kreis waren Ingrid und Werner Litzenberger dabei, sie haben die Entstehung der Filme von Beginn an begleitet. So hat Werner, der als Zimmermann oftmals für die Baubühne mit verantwortlich war, bereits das Blockhaus gebaut, in dem Edgar Reitz und Peter Steinbach das Ur-Drehbuch von HEIMAT schrieben.

Auch Mitarbeiter des Pro-Winzkinos ließen sich es oft nicht nehmen, die Filme mit anzusehen, und am Sonntag gab sich für die abschließenden drei Filme noch Anke Sevenich, Darstellerin des „Schnüsschen“, mit ihrer Familie die Ehre.

Am Samstagabend, nach neun gesehenen Filmen, gesellte sich auch der soeben aus München angereiste Edgar Reitz zu der Gruppe. Als er erfuhr, dass wir am Abend noch den zehnten Teil „Das Ende der Zukunft“ sehen würden, der vor allem von Reinhards Begegnung mit Esther in Venedig geprägt ist, meinte er „da haben Sie noch etwas vor sich. Der zehnte Teil ist mein absoluter Liebling, das habe ich auch immer wieder betont. (…) Der Darsteller des Reinhard, László I. Kish, erinnerte mich immer an Orson Welles. Das ist das Gesicht von Orson Welles. Und der war ja auch so ein Filmemacher-Genie.“

Angesprochen auf die Symbolik der vielfach auftretenden Verletzungen der rechten Hand (Hermann, Helga, Clarissa, Vater Cerphal, ..), die ja stets auch für innere Verletzungen stünden, erläuterte Reitz: „Bei der Lektüre eines Buches bildet sich der Leser seine eigenen Bilder, insofern findet der Roman auch in den Köpfen der Leser statt. Im Film hat das noch einmal eine ganz andere Dimension, denn was man dort zu sehen bekommt lässt an Realismus nichts zu wünschen übrig, da kann dann sozusagen die Phantasie der Zuschauer gar nicht daran rütteln, das Bild als solches enthält einen unglaublichen Realismus, wie wir das sonst in der Kunst nie haben. Deswegen findet die eigentliche Phanstasietätigkeit der Zuschauer zwischen den Szenen, zwischen den Bildern, da wo die Schnitte sind statt, dort wo die Szenenwechsel und die Ortswechsel sind. Und damit zu operieren ist die eigentliche Kunst beim Filmemachen. Ich habe immer gesagt ‚man macht einen Film mit geschlossenen Augen‘. So sehr man eine Welt der Bilder gestaltet und sich als Augenmensch betätigt, wenn man den Film schreibt oder den Film montiert arbeitet man mit geschlossenen Augen, weil das alles verbindet sich nur in der Vorstellungswelt, und da gelten ganz andere Gesetze als z. B. in der Literatur. Dort würden Sie Begriffe bilden oder Zeiten, man kann zum Beispiel in der Sprache sagen, indem wir die Vergangenheitsform benutzen, das war oder ist einmal gewesen, wir haben in der sprachlichen Grammatik die Vergangenheitsform. Das hat der Film nicht, der Film ist immer Gegenwart, jedenfalls in dem Augenblick wo es auf die Leinwand kommt ist es Gegenwart. Wenn jetzt etwas zeitlich vorher ist oder danach oder mit der Zeit fließt muss man ganz neue Methoden erfinden, um dem eine Zeitdimension zu verleihen. In der Sprache können sie den Dingen eine Qualität verleihen, indem sie ein Adjektiv hinzufügen, beispielsweise indem Sie sagen, ’sie kam herein und sah wunderschön aus‘. Das kann man nicht filmen, weil da müsste ich eine Schauspielerin nehmen, die müsste ich mit Kleidung versehen und schminken lassen, aber ob sie dann für jeden, der das sieht, als schön gelten würde, das ist fraglich. Die Literatur kann einfach sagen, sie wäre schön, da macht sich jeder ein eigenes Bild, sodass er sie schön findet. Aber im Film ist der Begriff ’schön‘ nicht zu vermitteln, wenn dann könnte ich das nur indirekt machen indem ich eine andere Figur einführe, der die schön findet. Aber das muss er dann auch zum Ausdruck bringen und das ist wieder nicht schön. Die filmische Erzählweise ist also nicht vergleichbar mit der Literatur. Wenn Sie also solche Begriffe finden wie Schaffenskraft symbolisiert durch die (verletzte) Hand, dann ist das nicht im Film, sondern in Ihrem Kopf. Ein anderer hat einen anderen Gedanken dazu, und der ist auch legitim. (…) Die einzige Gemeinsamkeit ist ist der erzählerische Fluss, den erleben Sie alle miteinander.“

Edgar Reitz in Erzähllaune. Im Hintergrund ist links Anna Hepp, Regisseurin und Autorin von 800 mal einsam, zu erkennen.

Bezogen auf sein neues Buchprojekt zum Thema Zeit führt er aus: „Die Ursache unserer Zeitwahrnehmung ist die Sprache. Dadurch, dass wir alle ausdrücken können, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, dass wir eine bestimmte Erwartung haben und denken, dass etwas kommt oder hoffen, dass es sich so ereignet … und dann die Vergangenheit, unser Blick zurück, ja selbst in diesem Augenblick, alles gliedert sich durch diese Wahrnehmung in vorher und nachher. Sie wissen genau wie es hier war bevor wir zur Tür hereinkamen, und gleichzeitig sitzen wir alle doch noch auf denselben Stühlen. Viel bewegt hat sich nicht, aber es hat sich etwas verändert. Das ist Zeitwahrnehmung, so erleben wir die Zeit, als Veränderung, als Bewegung. Ohne Bewegung und ohne Veränderung gibt es keine Zeit. Und die Ursache, dass wir überhaupt darüber reden können, liegt darin, dass die Menschheit eine Grammatik erfunden hat, um darüber zu reden.“ Augenzwinkernd fügt er in Anspielung auf den italienischen Physiker Carlo Rovelli hinzu: „Die ersten Menschen, die behauptet haben, die Erde sei eine Kugel, hat man verbrannt. Was machen wir mit den ersten Leuten, die nun behaupten, es gebe keine Zeit? (…) Es gibt viele Rätsel um diese Frage, und ich glaube, dass wir Filmleute etwas dazu beitragen können, weil wir anders erzählen als die Sprache.“

Auf die Nachfrage einer aus dem niederländischen Nijmegen stammenden Besucherin danach, wie das Grab des (eigentlich erst 1986 verstorbenen) Joris Ivens in den Film komme (Clarissa besucht es während ihres Aufenthaltes in Paris (Film 8)), zeigt sich Edgar Reitz entzückt. Er berichtet von der späten aber sehr befruchtenden Freundschaft zu Ivens, und erzählt von ihrer ersten Begegnung 1985 im engen Fahrstuhl des Grand-Hotels in Rimini (vgl. Kapitel 86 seiner Autobiographie). Er habe Ivens geholfen, seinen letzten Film (Une histoire de vent) zu machen, sei auch in Nijmegen gewesen um das Joris Ivens-Museum einzurichten und sein Enkel Markus Reitz (Sohn von Susanne) ist theoretischer Physiker an der Universität Nijmegen, „und da ist gerade vor einer Woche mein erstes Urenkelkind zur Welt gekommen“.

Als am Sonntagabend gegen 20 Uhr der letzte Teil endete, lud Wolfgang Stemann noch zum Resteessen in Raum 9 ein. Es wurde noch ein langer Abend mit intensiven Gesprächen und menschlichen Begegnungen.

Allen Mitarbeiter(inne)n des Pro-Winzkinos gebührt ein großer Dank für Ihren Mut, so ein Projekt „anzupacken“, ihren großen Einsatz, für ihre menschliche und fachliche Begleitung während der drei Tage und insbesondere für die großartige Versorgung während der Pausen.

Allen Teilnehmer(inne)n werden diese drei Tage in tiefer Erinnerung bleiben, auch wegen des großartigen Rahmenprogramms, über das in Kürze ein Bericht folgt.

Bildimpressionen vom Die Zweite Heimat-Wochenende

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