„Ue, unne, vore, hinne.
Schlusschor von HEIMAT
Drue, drunne, drauße, drinne
Loo, doo, hie, Frickelscher un Kieh
Knäpperscher, Krieschele, Wehle un Schlehe
Verziehlscher, Geheischnis
Eisch, meisch, deisch, ue, unne, vore, hinne
Vatter, Mutter, Kinn, Unkel un Gesinn
die Goot und der Pat, im Himmel schwätze se Hunsrücker Platt.“
Ich kann mich gut an meinen allerersten Eindruck von HEIMAT erinnern, als ich im September 1984 zufällig in die Ausstrahlung „zappte“ (bei damals drei zur Wahl stehenden Programmen wohl doch nicht so ein großer Zufall …): Es war der Dialekt, die Sprache, die in diesem Film gesprochen wurde, und die sich dann als „Hunsrücker Platt“, der Dialekt der Region, entpuppen sollte. Interessanterweise kann ich mich auch gut daran erinnern, wie ich schon damals, ohne jemals im Hunsrück gewesen zu sein, ein Gespür dafür hatte, wer von den Darstellern „native Speaker“ war, und wer von den zugereisten Darstellern gut gelernt hatte und wer nicht (das habe ich schon damals am stärksten an der Figur des jungen Paul bemerkt).
Die Entscheidung, seine Darsteller die Sprache der Orte, an denen sein Film spielt, sprechen zu lassen, muss Edgar Reitz sehr bewusst und in Abwägung aller praktischen Konsequenzen getroffen haben: Sicher ist ihm klar gewesen, dass der Dialekt für manchen Zuschauer eine Verstehensbarriere bedeuten würde, aufgrund derer sich der Zugang zu dem Film (teils) verschließen könnte. Er wird auch den Aufwand antizipiert haben, den es bedeuten würde, Darsteller, die nicht aus der Region kommen, im Dialekt zu coachen. (Dazu lebten die Darsteller wie Marita Breuer oder Maximilian Scheidt vor Drehbeginn wochenlang in Hunsrücker Familien!) Aber Edgar Reitz wäre nicht Edgar Reitz, wenn er nicht trotzdem genau diese Entscheidung getroffen hätte – aus Liebe zu und Respekt vor den Menschen und der Region und im Sinne der Echtheit, der Authentizität des Gezeigten. Sie hat somit sowohl persönliche als auch professionelle Motive, und macht HEIMAT und HEIMAT 3 – auch wenn den darin erzählten Begebenheiten und Charakteren von vielen Menschen universeller Charakter zugesprochen wird (Reitz erzählt immer wieder gerne die Geschichte von der Asiatin, die ihn nach einer Vorführung ansprach und kundtat, mit Katharina habe er exakt ihre Großmutter porträtiert) – unverwechselbar und einzigartig, indem sie ihnen eine örtliche Bindung, eine Heimat schenkt, die in der Sache überall sein könnte und doch in der Form ganz klar lokalisierbar ist.
Und Edgar Reitz führt diese Entscheidung für den Dialekt konsequent fort: Gunnar, Udo, Tobi, Tilmann, Bernd, Pieritz, Martina und die Straßenbauarbeiter sprechen feinstes Sächsisch, die Luzie Berliner Dialekt, der Kohlen-Joseph tiefstes bayerisch und die Dorli zeigt, ebenso wie Lotti, Ursel und Klärchen, sprachlich eine deutliche Nähe zum Ruhrgebiet. Renate ist tief in ihrem schwäbischen Dialekt verwurzelt, die Martha verleugnet ihre Hamburger Wurzeln nicht, und schließlich begegnen wir den Nachbarn von Lulu und einer Dirne, die uns reinstes Kölsch servieren. Und Herr Edel, wohl eine der markantesten Gestalten des Neuen Deutschen Films, spricht wie er spricht – nennen wir es „Edelsch“. All ihre Dialekte „geben den Figuren eine Herkunftsgeschichte und Charakter,“ schreibt Edgar Reitz dazu. Sprache als Identifikation im doppelten Sinne.
Der Schlusschor, mit dem Edgar Reitz dem Hunsrücker Platt ein Denkmal setzte, war für mich, auch wenn der Willem Gräf dem zur Beerdigung seiner Mutter angereisten Hermännchen und damit uns allen auf dem Friedhof eine kleine Auffrischungslektion gab, lange Zeit teilweise ein Rätsel, obwohl ich denke, dass sich viele spezielle Begriffe im Hunsrücker Dialekt durch das Hören leichter erschließen als durch das lesen – zumal es ja keine einheitlichen Regeln zur Verschriftlichung gibt.
Bei meinen Besuchen im Hunsrück musste ich feststellen, dass dort gerade in den Städten das Hochdeutsch immer mehr Einzug hält, der Dialekt verloren geht. Vielleicht sogar auch nicht mehr erwünscht oder gar verpönt ist. So berichteten mir Jugendliche aus den Dörfern, dass sie in der Schule in der Stadt schief dafür angesehen werden, wenn sie Dialekt sprechen. Man sagt, in Brasilien, in der Gegend von Rio Grande do Sul, wohin im 19. Jahrhundert zigtausende von Hunsrückern auswanderten, sprechen heute mehr Menschen Hunsrücker Platt als im Hunsrück selbst. Die Bewahrung des Dialekt wird immer mehr zu einer Aufgabe der älteren Generationen und findet vorwiegend in Nicht-Alltagssituationen statt, etwa in den Aufführungen von Theatergruppen oder Projekten wie O-Ton Hunsrück, in dem sich auch 2015 Eva Maria Schneider verewigt hat.
Erschwerend kommt hinzu, dass es das Hunsrücker Platt nicht gibt. Wie bei vielen Dialekten findet sich stattdessen eine Vielzahl regionaler und sogar lokaler Ausprägungen. Grundlegend ist eine Unterscheidung von zwei Gruppen möglich:
„Die erste gehört zum Rheinfränkischen und wird von der Nahe bis ungefähr kurz hinter Kastellaun gesprochen. Die zweite gehört zum Moselfränkischen und wird von Kastellaun bis zur Mosel gesprochen. Die charakteristische Unterscheidung der beiden Gruppen wird durch die dat/das-Linie gebildet. Nördlich, zum Beispiel in Idar-Oberstein, Gemünden, Kirchberg und Boppard heißt es dat. Wichtiger aber ist nach Roland Martin eine von ihm Sobernheimer Linie genannte Isoglosse (Mundartgrenze), die beispielsweise östliches Herrd und westliches Heerd „Hirte“, östliches Gorrjel und westliches Goorjel „Gurgel“, östliches Rerre und westliches Rierer „Räder“ trennt. Überdies tritt Sprosslautung ein: Dorf wird zu Dooref, Kirche zu Keerisch, Berg zu Beerisch.
An anderen Isoglossen nennt Georg Diener die Unterscheidung von im westlichen Hunsrück gesprochenem o und eu und östlich der Linie Mastershausen-Buch-Mannebach-Nörterhausen geltendes u und ou oder au, also etwa Bruure (Bruder), Hau (Heu). Das d/t wird durch r ersetzt; so wohnt in Kappel de Peere Prappel (Peter); er mischd sich fri ous/us de Fäärerre (er macht sich früh aus den Federn). Das g zwischen zwei Vokalen entfällt: Aue, saan (Augen, sagen). Bei dieser breiten Aussprache heißt es für „Brombeeren“ Bräämerre: Et git kä brärer Blaad as en bräd, bräd Bräämerreblaad (Es gibt kein breiteres Blatt als ein breites, breites Brombeerblatt – Spruch aus Siemerre (Simmern) nach Pfarrer R. Christmann).„
zitiert nach Wikipedia.de, Aufruf 26.01.2021
Das Bild rechts ist im Rahmen von Forschungen am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. entstanden und zeigt exemplarisch die innere Differenzierung am Beispiel des Wortes Blätter. Aus ihnen ist 2019 das Buch von Georg Drenda Hunsrücker Platt. Dialekte zwischen Mosel, Rhein, Nahe und Saar hervorgegangen (hier ein Pressebericht).
Es gibt zahlreiche weitere Veröffentlichungen in Hunsrücker Platt, nicht nur Gedicht- und Erzählbände einheimischer Autoren, sondern auch wissenschaftliche Abhandlungen und Wörterbücher, die teilweise auch digital geführt werden. Beispielsweise das Buch Hunsrück heißt Honsreck von Bernd Bersch (2017) oder die Website de.wictionaray.org.
Wenn Sie lieber hören möchten? In der ARD-Mediathek finden Sie die Sendung „Mir schwätze Platt“ aus der Reihe „Fahr mal hin“ des SWR, in der auch Helma Hammen und Heribert Dämgen zu Wort kommen.
Auf Wikipedia finden Sie eine schöne Übersicht über das Thema, insbesondere einige sehr spezifische Wortbeispiele. Ein ganz besonders Wort, das in HEIMAT nie ausgesprochen aber in oben zitierten Chor gesungen wird, ist Geheischnis (bzw. Gehäischnis). Der Wortstamm dieses nicht direkt übersetzbaren Wortes kommt von „Gehege“ bzw. „hegen“, und macht das Wort zu einem unvergleichlichen Synonym für Vertrauen, Geborgenheit und menschliche Wärme.
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erzählte Edgar Reitz 2010, dass HEIMAT ursprünglich den Titel Geheischnis tragen sollte. Die Wohligkeit und Wärme, die der Film in zeitloser Weise ausstrahlt, hätten diese Wahl absolut gerechtfertigt.
Literaturempfehlung:
In ihrem Essay Heimat – eine deutsche Geschichte reflektiert Elin Fredsted, Professorin für dänische Sprache an der Europa-Universität Flensburg, die Bedeutung von Dialekt in fiktionalen Büchern und Filmen und findet insbesondere eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum die Filme der HEIMAT-Trilogie trotz der durch die Verwendung des Dialekts erzeugten Sprachbarriere so erfolgreich sind. Der Essay ist 2017 in dem Sammelband Elin Frested und Markus Pohlmeyer (Hrsg.): Zwischen Welten verstrickt III. Filmanalysen: Zwischen Heimat und Science Fiction erschienen, weitere Angaben sowie eine ausführliche Rezension finden Sie in der Bibliographie.