Das Radio in HEIMAT
Eine weitere Technik, die (neben der Fotografie) in HEIMAT die Geschichte wie ein roter Faden begleitet, ist das Radio: Unvergessen sind Pauls Radiobasteleien Anfang der 1920er Jahre auf dem Dachboden und in Wiegands guter Stube und das Picknick in der Baldenau, bei dem er seinen selbstgebauten Empfänger erstmals vorführt.
Den Beginn des Zweiten Weltkrieges erleben wir gemeinsam mit Ernst in der HJ-Segelfliegerschule auf der Wasserkuppe in der Rhön anhand der Rundfunkansprache Hitlers, (parallel montiert) in Schabbach (wo Wiegand die Worte des „Führers“ zitierend auf den Dorfplatz tritt und und ein Kind Sieghild genannt wird) und in Simmern (wo Robert sich aufmacht, das Auto wegzubringen, und Pauline „nur rein gefühlsmäßig“ 5000 Reichsmark von der Bank abholt).
In den Kriegsjahren sehen wir das Radio auf einem Bord hoch in der Zimmerecke der Simon-Küche, zu dem alle andächtig aufblicken – direkt neben einem Kruzifix, das auf der anderen Seite von einem Jesusbild flankiert wird. Und bei der Übertragung von Hermanns erstem Radiokonzert aus Baden Baden versammelt sich das halbe Dorf vor dem modernen Stereo-Empfänger in der Gastwirtschaft.
Die Darstellung des Radios in den verschiedenen Zeiten ermöglicht uns einen tiefen Einblick in den Wandel der Bedeutung und Funktionen des Rundfunks.
Zunächst, in den 1920er Jahren, verschafft das Radio den Zugang zur großen weiten Welt außerhalb des kleinen Hunsrückdorfes. Edgar Reitz schreibt dazu, die Erfindung des Radios rücke die archaischen Züge, die Mentalität und Lebensgewohnheiten der Bewohner seinerzeit noch aufweisen, in Distanz.1 In dieser Phase wird das Radio insbesondere zum Ausdruck und Magneten von Pauls Sehnsucht, die ihn eines Tages für über 20 Jahre spurlos verschwinden lassen wird.
In seiner lesenswerten Dissertation Evolution der Kommunikationsmedien. Technik und kultureller Wandel in Edgar Reitz’ Heimat (2006)2 beschreibt Goran Mijić überzeugend den Wandel der Funktionen und Bedeutung des Radios in den darauf folgenden Phasen:
Den Kriegsbeginn (Szene 4383) betreffend betont er die Gleichschaltungsfunktion des Rundfunks. Reitz führe „die ungeheure Macht des Rundfunks vor, eine Botschaft mit Lichtgeschwindigkeit über das ganze Land zu verbreiten. (…) Die komplexe Parallelmontage, die die dem Rundfunk eigene Synchronizität verdeutlicht, ermöglicht dem Zuschauer, das ganze Ausmaß der totalen Kontrolle über das Territorium des „Dritten Reiches“ und der ganzen Bevölkerung zu begreifen.“ (Mijić, S. 168) Daraus werde „ersichtlich, wie das NS-Zentrum verschiedenen Peripherien eine wichtige Information – ein einheitliches Bild vom ‚Überfall‘ Polens – auferlegt, die in der Bevölkerung heftige Reaktionen, jedoch keine Hinterfragung der Wahrheit der Botschaft, hervorruft.“ (S. 169)
In der Wunschkonzert-Szene Anfang 1945 (Sz. 511) – hierfür wurde ebenfalls eine Originalaufnahme (in diesem Fall mit Ilse Werner) verwendet – werden zwei andere Funktionen des Radios im Sinne der Kriegspropaganda deutlich: Das Knüpfen der Verbindung zwischen Heimat und Front und die beharrliche Übermittlung von Durchhalteparolen (vgl. S. 173/4) – wobei den Zuhörern in der Simon-Küche (anhand ihrer Kommentare ersichtlich) durchaus klar ist, dass es sich um eine „sorgsam geplante Propaganda-Sendung handelt“ (S. 176).
Es finden sich zudem die Kriegsjahre zeitlich umrahmend zwei Szenen, in denen das Radio imitiert wird: Martina ahmt im April 1945 in bombardierten Berlin im Bemühen, den schwer verwundeten Pollak bis zum Eintreffen des Arztes bei Bewusstsein zu halten, das Wunschkonzert nach (Szene 527). Und bereits 1938 sehen wir Pieritz die Radioreportage zum Rennen auf dem Nürburgring parodieren (Szene 344). Reitz leistet gem. Mijić hiermit einen Beitrag zur Verdinglichungs-Debatte, indem er verdeutlicht, „wie das Subjekt im modernen Zeitalter von den verschiedenen Radio-Sendungsformaten (Radio-Sportreportage, Wunschkonzert) programmiert und abhängig wird.“ (S. 183) Die groteske Verformung in der Martina/Pollak-Szene mache überdies „das Radio-Propaganda-Modell transparent.“ (S. 182)
In der Nachkriegszeit nimmt die Bedeutung des Rundfunks merklich ab, bis das Radio schließlich zu einer Randerscheinung wird. Es gilt, vor allem bedingt durch den Vormarsch des Fernsehens ab dem Ende der 50er Jahre, nicht mehr als die zentrale Informations- und Unterhaltungsquelle. Mijić verdeutlicht dies anhand von zwei Szenen, nämlich dem Jahreswechsel 1955/56, den Klärchen und Hermann einsam am Ufer des Rheines verbringen (Sz. 675), und Hermanns erstem Rundfunkkonzert (1967, Sz. 745 ff.). An beiden Szenen wird vor allem deutlich, dass das Radio seine integrative Funktion verloren hat: Hermann und Klärchen sind nirgends willkommen, die Gesellschaft in der Schabbacher Gastwirtschaft strömt alsbald spottend auseinander und auch die Familie Simon wohnt dem Ereignis nicht gemeinsam bei, ganz im Gegenteil wird besonders am Beispiel Marias, verstärkt durch das anschließende Telefonat mit Anton, eine starke Isolation deutlich, die sich auch auf ihre Rezeption von Hermanns Musik und damit symbolisch auch auf die Beziehung zu Hermann selbst bezieht. „… der ist so weit fort von mir, Anton, das glaubst du überhaupt net. Weißt du was, Anton, das tut mir richtig weh, dass man noch net mal mehr Musik zusamme hören kann.“4
Aus dem einstigen Medium der Integration und Gleichschaltung ist in der Nachkkriegszeit somit ein Medium der Entfremdung geworden. Hermanns avantgardistische Komposition5, die Reitz ironisch (aber auch in Anspielung auf Karlheinz Stockhausens Werk Kontakte (1958-60)) Bindungen nennt, ist in vielerlei Hinsicht völlig bindungslos, und „stellt deshalb einen radikalen Beitrag zum Thema ‚Atomisierung der modernen Gesellschaft‘ dar, die auch in der Hunsrück-Region festen Fuß gefasst hat. Im Rahmen der Familie Simon lässt sich die Avantgarde-Komposition als Lamento über die Auflösung der Großfamilie lesen.“ (S. 191)
Das Radio integriert …
… und isoliert:
Quellenangaben:
1 vgl. Edgar Reitz, Drehort Heimat, Frankfurt am Main (Verlag der Autoren) 1993, S. 19
2 Goran Mijić: Evolution der Kommunikationsmedien. Technik und kultureller Wandel in Edgar Reitz’ Heimat mit besonderer Berücksichtigung technologie- und ideologiekritischer Strategien, Bern (Verlag Peter Lang) 2006 (eine ausführliche Rezension dazu finden Sie in der Bibliographie).
3 Szenennummerierung gem. Edgar Reitz: HEIMAT Eine deutsche Chronik. Die Kinofassung. Das Jahrhundert-Epos in Texten und Bildern, Marburg (Schüren) 2015
4 ebd., S. 460 (Szene 750)
5 Genaueres zur avantgardistischen Musik der 1960er Jahr finden Sie, mit Bezug zu den in Die zweite Heimat eingeflochtenen Werken, in Ulrich Schönherr: Klang – Bild – Sprache. Musikalisch-akustische Konfigurationen in der Literatur und im Film der Gegenwart, Bielefeld (Aisthesis Verlag) 2014, Kap. III Verstimmungen. Musik, Politik und Gesellschaft nach 1945 und Edgar Reitz’ Die Zweite Heimat, S. 82-101 (eine Kurzrezension können Sie in der Bibliographie lesen)