Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

„Filmkunst ist die Ausnahme, nicht die Regel.“

Edgar Reitz im Filmgespräch zu den Geschichten aus den Hunsrückdörfern

Am vergangenen Sonntag (13.8.23) fand sich Edgar Reitz im gut besuchten Pro-Winzkino Simmern zum Filmgespräch mit Lukas M. Dominik über die Geschichten aus den Hunsrückdörfern ein. Dabei berichtete er auch über sein aktuelles Projekt, Filmstunde 23.

Über die Entstehung und den Stellenwert der Geschichten aus den Hunsrückdörfern

„Der Dokumentarfilm ist eine ganz eigene Gattung des Films, mit ganz eigenen künstlerischen Regeln. Ich fühle mich auf dem Gebiet sozusagen als Outsider und verstehe mich nicht als Dokumentarist. Aber es war bei der Vorbereitungsarbeit von HEIMAT so, dass ich zwei Jahre lang mit meinem Co-Autor Peter Steinbach in einem Blockhaus in Woppenroth lebte, diese Hütte wurde unser Denkzentrum und Arbeitsplatz. Steinbach kannte den Hunsrück gar nicht, (…) hatte auch mit der Landschaft keinerlei innere Verbindung, und genau das war mein Vorteil, denn ich hatte dauernd jemanden um mich herum, dem ich alles erklären musste. Das fing schon an mit dem Dialekt, (…) ich war dauernd der Übersetzer, und ich habe ihn ununterbrochen bearbeitet mit meinen Erinnerungen an die Kindheit, an die frühen Jahre, die Kriegszeit und an die Zeiten, die in dem Film vorkommen sollen. Und diese innere Erzählhaltung hat sehr viel dazu beigetragen, dass wir eine Form gefunden haben für die Art und Weise, wie der Film, HEIMAT, erzählt wird. Dabei haben wir regelmäßig kleine Ausflüge in die Dörfer der Umgebung gemacht, wir gingen fast jeden Tag in die Gastwirtschaften und sprachen mit den Leuten auf der Straße, und hatten auf die Weise eine große Menge an Eindrücken gesammelt. Und so entstand die Idee, diese vielen kleinen Eindrücke in einer Dokumentation sozusagen abzuspeichern. Es ging mir nicht darum, eine eigenständige Dokumentation zu schaffen, sondern einen Aufbewahrungsort für die vielen Eindrücke und Begegnungen zu finden. Der Films ist also ein kleiner Erinnerungs- und Sammelpunkt. Und das sieht man ihm auch noch an, (..) der rote Faden ist eigentlich die Erinnerung, die immer wieder springt von dem einen zum anderen. Für die Hunsrücker hat der Film noch einmal eine ganz besondere Bedeutung angenommen, weil darin so viele Dinge vorkommen, die es nicht mehr gibt.“

Eine Hommage an den Hunsrück

Th. H.: „Sie haben das gerade eher technisch beschrieben, die Geschichten aus den Hunsrückdörfern als Erinnerungsspeicher, mir ist aber gerade heute auch noch einmal wieder bewusst geworden, dass das ein sehr warmherziger Film ist, gerade in dieser Sequenz mit den Portraits der Menschen habe ich auch die Liebe im Blick das Aufnehmenden gefühlt, wenn ich das so sagen darf. Würden Sie in diesem Sinne sagen, die Geschichten aus den Hunsrückdörfern sind auch eine Liebeserklärung, eine Hommage an den Hunsrück und die Menschen im Hunsrück?“
E. R.: „Ganz bestimmt ist es das, ich war in der Zeit des Drehbuchschreibens mit Peter Steinbach immer wieder glücklich, wenn ich ihm so etwas zeigen konnte, so viel Herz der Menschen untereinander … beispielsweise wenn die Bergleute von Bundenbach ihre Kinderspiele nachahmen, mit dem ‚Drilles‘, das ist so etwas Schönes, da denkt man, solche Menschen können nie etwas Böses tun.“

Auf die Frage, ob das Dokumentarische dem Fiktiven vorausgehen muss

„Für meine Recherchen spielte das Archiv der Hunsrücker Zeitung eine große Rolle. (…) In den Geschichten aus den Hunsrückdörfern kommt ja auch jemand aus der alten Mannschaft der Hunsrückzeitung vor, der beschreibt, wie diese Zeitung noch im Bleihandsatz hergestellt wurde, und wie auch die lokalen Ereignisse aufgegriffen wurden. Diese Zeitung bietet ein unglaublich direktes Spiegelbild des Lebens der Menschen. Wir haben, als wir an den Drehbüchern für HEIMAT arbeiteten, die Jahrgänge der Hunsrücker Zeitung studiert, und daraus immer wieder Inspiration und Anstöße gewonnen. Dabei spielten gerade die unwichtigen Sachen eine Rolle, nicht die Titelseiten mit den politischen Meldungen, sondern der Anzeigenteil oder Lokalteil, die einem sehr viel mehr über das Leben der Menschen erzählten als die großen redaktionellen Überschriften.

In HEIMAT gibt es beispielsweise direkt in der ersten Szene die Geschichte von einem Raubmord in Rhaunen, da wird der örtliche Apotheker überfallen. Das haben wir aus der Zeitung wörtlich in den Dialog des Films übernommen. Oder diese wunderbare Überschrift ‚In Simmern verlief der erste Mai so gut wie unbemerkt.‘ Das hat eine abgründige Wahrheit.“

Über den Heimatbegriff

Ich habe jetzt über 30 Jahre lang dafür gekämpft, dass wir endlich begreifen, dass das Wort Heimat kein einfacher Begriff ist. Sehr wenig durchlichtet, sehr schwierig, und sehr leicht zu missbrauchen. Es gibt kaum etwas, womit man vorsichtiger und kritischer umgehen muss als mit dem Begriff Heimat. Nun nennt sich sogar eine politische Partei so. Da sind wir wieder genau dort, womit alles angefangen hat. Dabei haben wir doch gemeint, wir hätten durch unsere Arbeit etwas Licht in diesen Begriff hineingetragen. Aber wenn man so etwas liest denkt man, es war alles für die Katz. Also vorsichtig mit dem Begriff Heimat! Ich würde heute sehr lange zögern, den Film wieder Heimat zu nennen. Es war damals ein Moment, wo man mit diesem Begriff ein Stück Wahrheit und ein Stück Liebe zu den Menschen ausdrücken konnte. Inzwischen ist es wieder ideologisch so überfüllt, dass ich zögern würde, das zu verwenden.

Über den Autorenfilm und die Zusammenarbeit mit Gernot Roll

Ich habe immer wieder gekämpft für den Begriff des Autorenfilms, ein Begriff der in den 1960er Jahren aus Frankreich zu uns gekommen ist, aus der nouvelle vague, ‚le cinema des auteurs‘. Wenn man das Filmemachen mit den anderen Künsten vergleicht, so sieht man, dass es notwendig ist, dass ein Mensch die künstlerische Verantwortung trägt. Warum ist das nicht teilbar? Weil eine tiefe Verbindung zwischen der eigenen Biographie und der künstlerischen Äußerung immer unvermeidbar ist. Das hat damit zu tun, dass wir bestimmte emotionale Tiefen nicht erklären können, selbst wenn man sich so gut versteht in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Darstellern, so ist es doch immer nicht umkehrbar, es ist immer so, dass der Autor seine Empfindungen, die er selbst nicht benennen kann, in den Ideen und Ausführungen des anderen wiedererkennt. Ich bin dafür eingetreten, dass man die Filmkunst als das Werk einzelner Autoren oder Autorinnen versteht, und dass auch eine Verantwortlichkeit damit verbunden ist. Natürlich kann niemand allein einen Film machen, es ist immer ein Teamwork, aber die Form der Zusammenarbeit ist sozusagen von einer Seele her, einer tiefen Dimension her gesteuert. Dass muss anerkannt werden. Wenn das in einem Team nicht respektiert wird oder wenn gar Konkurrenzverhältnisse entstehen, dass innerhalb des Teams also um die Autorenschaft eifersüchtig gekämpft wird, dann misslingt der Film immer. Das ist das Schlimmste was passieren kann.
Das ist in anderen Künsten ganz selbstverständlich, Romane werden immer von einzelnen Menschen geschrieben, Bilder werden immer von einzelnen Menschen gemalt, und auch im Theater hat sich das mehr und mehr herausgebildet, es gibt ja auch den Begriff des Regietheaters, und diese Sicht setzt sich um. Also ich verstehe mich in diesem Sinne als Autorenfilmer, habe aber immer die Offenheit gezeigt, mit anderen zusammenzuarbeiten. (…)

Beispielsweise Gernot Roll, mit dem ich den größten Teil meines Lebens zusammengearbeitet habe, eine so intensive Begegnung. Wer unsere Dreharbeiten erlebt hat weiß, wir haben uns praktisch nie mit Worten verständigen müssen, wir haben uns einfach nur angeschaut oder mit dem Rücken zueinander gewusst, was der andere denkt. Und trotzdem, wenn Sie die Filme von Gernot Roll betrachten, er hat ja wahnsinnig viel mit anderen Regisseuren gearbeitet, jeder Film ist anders als die HEIMAT. Was er mit mir gemacht hat, hat eine bestimmte Bildsprache, und die hat er nur mit mir. Ich kann nicht sagen, ich hätte erfunden was er dann gedreht hat, aber in meiner Gegenwart ist ihm das eingefallen. Das ist die Atmosphäre in der Filmkunst entsteht, und deswegen verteidige ich den Begriff des Autorenfilms.

Über das Erinnern

Wenn wir uns nicht erinnern, vergeht unser Leben spurlos. Jeder Tag ist bloß das Ende des Vortages, alles was wir hinter uns haben ist nicht mehr greifbar, niemand kann in die Vergangenheit zurückkehren, und die Tage des Glücks und der Jugend sind einfach eine flüchtige Sache. Wenn wir uns erinnern, können wir unser Leben lang einen Teil davon als Reichtum in uns tragen. Aber in der künstlerischen Verarbeitung von Erinnerungen ist es ein fester Besitz, da wird sozusagen das Vergangene und Erlebte zu einem großen Teil unserer Existenz. Die Möglichkeit, sich zu erinnern, liegt in unserer Natur, aber noch viel konkreter ist eine Filmaufnahme. Seit die Menschheit gelernt hat, Filme zu machen, können wir Vergängliches in einer Weise, wie es noch nie der Fall war, bewahren. Wenn wir uns an etwas erinnern, z. B. an historische Ereignisse wie den Tod von Kennedy oder 9/11, aber auch Dinge aus unserem privaten Leben, kommen dazu fast immer sofort auch Filmaufnahmen, die die vergangene Zeit als einen Ort bewahren, den man gemeinsam betreten kann; also die Erinnerung, die zunächst etwas ganz individuelles ist, wird zu etwas kollektivem, einem gesellschaftlichen Besitz, der durch den Film entsteht. Filmkunst ist in erster Linie Erinnerungskunst. Man kann Zeit aufbewahren, das ist das Schönste was es daran gibt. Nehmen wir als Beispiel unseren Film Die andere Heimat. Wie viele unserer Darsteller leben schon nicht mehr? Aber wenn wir den Film sehen sind sie lebendig wie am ersten Tag. Wir können mit ihnen lachen, weinen und zusammen sein, das ist das Wunder des Films.“

Über das aktuelle Projekt Filmstunde 23

„Im Jahr 1968 habe ich in einem Münchner Mädchengymnasium [es handelt sich um das Luisen-Gymnasium und die damalige 8. Klasse seiner Tochter Susanne, Th. H.] einen Unterrichtsversuch gestartet. Ich war der Meinung, dass das Unterrichtsfach Film in den Bildungskanon der Schulen gehört. Die Filmkunst als moderne Form der künstlerischen Betätigung beeinflusst alle anderen Künste zutiefst., was aber im Bildungssystem nicht zur Kenntnis genommen wird. Ich wollte den Bildungspolitikern des Landes nahebringen, wie ein Filmunterricht in höheren Schulen praktisch aussehen kann. Ich habe dann ein Curriculum entwickelt und unterrichtete ein Semester lang Film. Das war ziemlich erfolgreich, wir bekamen von der Industrie sogar kleine Super-8-Kameras gesponsert, sodass die 26 13jährigen Schülerinnen jeweils kleine Filme herstellen konnten. Die haben wir zusammengestellt und den Eltern und der ganzen Schule vorgeführt, und zudem gab es eine Dokumentation, die der Bayerische Rundfunk erstellte und ausstrahlte.

Vor zwei Jahren war ich mit Salome in einem Konzert im Münchner Prinzregententheater, und in der Pause sprach mich eine ältere Dame an. ‚Sie werden sich an mich nicht erinnern, Herr Reitz, aber ich bin eine von Ihren damaligen 13jährigen Schülerinnen.‘ Und sie berichtete mir, dass sich die Klasse seitdem, seit über 50 Jahren also, sich jedes Jahr trifft, um miteinander über Film zu sprechen, und die sind alle für ihr ganzes Leben lang auf die Spur gesetzt und filminteressiert geblieben. Und das zeigt auch, was man durch ein gezieltes Bildungsangebot erreichen kann. Wir reagierten sofort, ich habe über diese Dame erreicht, dass wir die ganze Klasse noch einmal eingeladen haben, im April dieses Jahren kamen sie alle nach München, um mit mir zusammen über diesen Filmunterricht zu sprechen, und das haben wir dokumentiert. Der Film ist gerade im Schnitt und wird im September oder Oktober fertig werden.“

Aufgezeichnet und transkribiert von Thomas Hönemann, Zitation nur mit Genehmigung und expliziter Quellenangabe.

Der Tag in den Medien

Das Video von Claus Schubert berichtet über die Eröffnungsveranstaltung und (ab Minute 10:30) ausführlich vom „Edgar Reitz-Tag“ in Simmern. Darin ist insbesondere ein großer Teil des vom SWR geführten Interviews mit Edgar Reitz enthalten.

Das SWR2-Radio brachte in der Rubrik Kultur aktuell einen kurzen Bericht.

In der Rhein-Hunsrück-Zeitung berichten Thomas Torkler (Text) und Werner Dupuis (Bilder) am 15.8. sehr umfangreich (Foto auf der Titelseite, Bericht im überregionalen Teil (S. 10) und eine ganze Seite im Lokalteil (S. 15), die Inhalte sind digital leider nur zahlenden Besuchern zugänglich.

Bildimpressionen
Edgar Reitz, künstlerische Leiterin Sabine Schultz, Bürgermeister Dr. Andreas Nikolay, Maike Drinhausen und Bettina Brokemper von der Produktionsfirma HEIMATFILM (anlässlich der Aufführung des von ihnen produzierten Filmes Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste von Margarethe von Trotta), Wolfgang Stemann (Pro-Winzkino) und Kurator Lukas M. Dominik