Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Nürnberg die Zweite: Von Eichhörnchen und einer neuen Zeit

Bericht von Thomas Hönemann, 6.3.2018

50 Programmpunkte an 35 Tagen, darunter die komplette HEIMAT-Trilogie – Zwei Monate Edgar Reitz sind am Sonntagabend im Filmhaus Nürnberg zu Ende gegangen. Es war ein emotionaler, feierlicher Abschied. In Nürnberg ist eine Gemeinschaft gewachsen, mit Edgar Reitz und seinen Filmen als verbindender Klammer. Viele der Zuschauer haben sich intensiv hineinbegeben, nicht wenige sind bei fast jeder Veranstaltung dagewesen. So beginnt nun für sie eine „neue Zeit“, um eine besondere Erfahrung reicher, unabhängig davon, ob sie die Filme für sich neu- oder wiederentdeckt haben.

Doch zunächst gab es bereits während dieser letzten Tage von Nürnberg so einiges an Neuem zu entdecken:  

Edgar Reitz umschrieb es in dem einen Fall plastisch mit dem Bild eines Eichhörnchens, das nun Nüsse wieder ausgrabe, die es einst vor langer Zeit vergraben habe, und sich daran erfreue. Gemeint sind die „Geschichten vom Kübelkind“, die Reitz Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit Ula Stöckl drehte. 22 Kurzfilme in unterschiedlicher Länge, serviert wie damals im Rationaltheater München, wo im November 2017 das restaurierte Material Premiere feierte und auch vom 15.-18.3. wieder gezeigt wird, „a la carte“, also wahlweise, je nach Geschmack der Zuschauer, im „Kneipenkino“ im Kinderzimmer des Filmhauses.

Es war die Zeit, als die Protagonisten des Jungen Deutschen Films die ökonomische Macht der Vertreter des „alten Films“ mit voller Wucht zu spüren bekamen, für ihre Werke keinen Verleih fanden. Der Ausweg von Reitz und Stöckl hieß damals: „Der Film verlässt das Kino“. Und so lautet auch der Titel der Dokumentation, die Robert Fischer, Filmpublizist, Regisseur und Filmhistoriker, über „das Kübelkind-Experiment und andere Utopien“ hergestellt hat. Entstanden ist die Idee für das Projekt nach der Aufführung eines Filmes von Fischer über Jacques Rivettes fast 13-Stunden-Film „Out 1 – Noli me tangere“ in München, nach dem Reitz beschloss, die Kübelkind-Geschichten zu restaurieren, und Fischer bat: „Du musst den Dokumentarfilm darüber machen.“ Fischer erfüllte seinen Wunsch, mit ganz geringen finanziellen Mitteln, in Heimarbeit unter Beteiligung seiner gesamten Familie.
Daraus ist ein interessanter und fesselnder, filmhistorisch äußerst aufschlussreicher Einblick in eine Phase des Schaffens von Edgar Reitz entstanden, die bislang wenig bekannt war. Der Film, der auf der Berlinale im Februar uraufgeführt wurde[1], zeigt einen anderen Edgar Reitz, einen rebellischen, anarchischen jungen Mann, wie er in seinem sonstigen Werk nur in seltenen Momenten so offensichtlich zum Vorschein kommt.
Die Kübelkind-Filme brechen Tabus, verstoßen gegen Regeln und nehmen das Spießertum samt seiner überkommenen, von Katholizismus und verklemmter Triebhaftigkeit geprägten Moralvorstellungen aufs Korn. Sie halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und legen die Finger in die Wunden des Bürgertums. Bereits 1971 bezeichnete Peter W. Jansen die Filme als „cineastische Revolution“, als vielfältigen und folgenreichen „Bruch mit dem Kino herkömmlicher Spielart“ (Die Zeit, 23.7.1971), und im Deutschen Allg. Sonntagsblatt (Hamburg) schrieb M. Delling: „Ein Film von so sinnlicher Intelligenz, auf so phantasievolle Art Didaktik mit Spaß verbindend, von so ingeniösen Einfällen, dass man aus dem Staunen nicht herauskam und vom Staunen nicht aus der Betroffenheit.“[2]
In der Tat, es ist erstaunlich und bewundernswert, was Stöckl und Reitz seinerzeit gewagt haben, weitab vom Mainstream des „alten Kinos“ und völlig frei von jeglichen ökonomischen Zwängen, kommerziellem Kalkül und den üblichen Regeln des Filmemachens. Und nach wie vor absolut sehenswert. „Zeitlos“, wie eine Zuschauerin treffend bemerkte. Die menschlichen Abgründe, die Verstrickungen der Gesellschaft haben Bestand, auch fast 50 Jahre nach der Entstehung erscheinen die Themen aktuell.
Wer nicht nach München fahren kann, der sei getröstet: Im Herbst wird eine DVD-Ausgabe der restaurierten Kübelkind-Geschichten samt der Dokumentation von Robert Fischer erscheinen. Man darf sich jetzt schon darauf freuen.

Und noch etwas Neues gab es zu entdecken: Der niederländische Professor für Komposition Richard Rijnvos präsentierte Reitz‘s frühen Kurzfilm Geschwindigkeit (1963) in neuem Gewand, nämlich mit einer eigens für den Film komponierten Musik, die er am Silvestertag 2017 in Amsterdam mit einer 20-köpfigen Big Band uraufgeführt hat. Ein auf die Millisekunde auf der Basis eines mithilfe des Filmskripts erstellten Click-Tracks exakt getimter musikalischer Parforceritt, der dem Film eine überwältigende Dynamik verleiht, und das Nürnberger Publikum zu Begeisterungsstürmen verleitete. Reitz betonte mit Bezug auf die ursprüngliche Schlagzeug-Vertonung von Anton Josef Riedl: Kein Komponist der damaligen Zeit hätte sich jemals mit seiner Musik einem Film angepasst, sich untergeordnet, man habe vielmehr ein Kontrastprogramm komponiert, aus Angst, „vom Film verschluckt zu werden“. Rijnvoß kontert selbstbewusst: „Der Komponist ist hier der Boss!“, was Reitz schmunzelnd kontert: „Er ist der Boss dadurch, dass er sich auf den Film einlässt!“ Rijnvoß erlange seine Autonomie gerade durch seinen Mut, sich auf den Film einzulassen und darin aufzugehen.
Dies ist Rijnvoß in exzellenter Weise gelungen, Musik und Film erscheinen wie aus einem Guss, Reitz bescheinigte dem Film „so viel Rückenwind wie noch nie“, die Musik wirke wie die Schubkraft einer mächtigen Lokomotive.
Ein interessantes Phänomen wird durch die Rhytmisierung der Musik besonders transparent: Am Ende des Filmes, wenn das Tempo der Bilder immer noch weiter zunimmt, verschwimmt das Abgebildete so stark, dass die Bewegung schon wieder langsamer, teils fast statisch scheint. Besonders deutlich wird das an Frames, die für einen Moment lang stehen bleiben, aber durch die auf ihnen abgebildete Bewegungsunschärfe gleichzeitig von hoher Dynamik, wie in Bewegung erscheinen.
Edgar Reitz weiß zu berichten, dass es eine weitere Vertonung des Films gibt, entstanden im Zusammenhang mit einem Kompositionsauftrag der Musiktage Hitzacker: Ein Streichquartett habe ihm in diesem Fall gar eine lyrisch-romantische Note verleihen können. Und es entsteht die Idee, den drei Varianten des Filmes eine eigene Veranstaltung zu widmen, wie gewohnt verbunden mit einer Zuschauerdiskussion.

Außerdem wurde an diesem Abschlusswochenende der Film Die andere Heimat aufgeführt, der Glanz auf die Leinwand bringt, das Publikum verzaubert – nicht zufällig ist er zum Film des Jahres 2014 gekürt worden. Jan Dieter Schneider und Antonia Bill, die beiden wunderbaren jungen Hauptdarsteller, sind nach Nürnberg gekommen um die Aufführung zu begleiten. Für Antonia, die am Berliner Ensemble und Deutschen Theater Berlin große Erfolge feiert, fast ein Heimspiel: sie hat am Tag zuvor ihren 30sten Geburtstag in ihrem fränkischen Heimatdorf gefeiert, mit den Freunden aus der Kindheit und Jugend, bis in die frühen Morgenstunden. Jan steht kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums, arbeitet im Anerkennungsjahr in einem Krankenhaus in Trier. Zwischenzeitlich hat er Praktika in Brasilien gemacht, welch schöne Fügung. Wie Jakob interessiert er sich sehr für Ethnologie, weiß viel zu erzählen, und Edgar Reitz berichtet noch einmal, wie Jan damals die im Film vorkommende Indianersprache selbst entwickelte, und das offenbar so überzeugend, dass sogar ein Sprachwissenschaftler eine Abhandlung[3] darüber schrieb.

Das Wochenende wurde eingeleitet durch ein Gespräch zwischen Robert Fischer und Edgar Reitz – „Filmmakers live“. Eine gute Gelegenheit, die 2 Monate von Nürnberg revue passieren zu lassen. „Man erlebt sowas mit einer gewissen Bangigkeit, Filme die 50 Jahre alt sind dem heutigen Publikum zu zeigen, … wo man sich fragt, … haben die Filme bestand, und wird es mir peinlich sein, wenn ich mich ins Publikum setzte und das miterlebe“, so Reitz im Gespräch mit Robert Fischer. „Und jetzt kommt der Punkt, der mich wirklich bewegt hat: es ging immer gut, mir wurde es nie peinlich. Das ist sehr befriedigend zu wissen, dass das, was man gemacht hat, auch nach den vielen Jahren nicht irgendwie peinlich ist, sondern doch ernst genommen wird. Der zweite Punkt dabei war, dass es noch etwas zu entdecken gab, selbst für mich, dass es hin und wieder einen Film gab, wo ich nicht damit gerechnet habe, dass der Bestand hat. Und ein dritter Punkt: Wenn man so einen weiten Weg geht, dann bildet man sich ja ein, man habe sich entwickelt, man habe an irgendeiner Stelle, wo man sich seiner selbst noch nicht so ganz sicher war, auch das Metier noch nicht richtig beherrschte, dazugelernt … doch mir wurde schockartig klar, dass ich mich eigentlich gar nicht entwickelt habe, … ich habe mich wiedererkannt in fast allem was da lief, ich hatte das Gefühl, guck, da ist ein Anfang, und den variiert er seitdem permanent.“

Zum Abschied am Sonntagabend servierte Reitz den Zuschauern noch einige musikalische Häppchen aus Die zweite Heimat und Heimat 3, zum Schluss das „Schlaflied für Arnoldchen“, dessen Musik Salome Kammer komponiert hat, „ich dachte, das ist zum Abschied ein ganz nettes Geschenk an uns alle“. Schließlich fand er sehr bewegende Worte: „Ich danke Ihnen für die Treue und den Besuch an allen diesen schönen Abenden. Ich denke das bleibt uns allen unvergessen.“

Und dann gab es noch eine sehr schöne Nachricht zum Abschied: „Im Januar habe ich begonnen mit den Schreiben eines Drehbuchs, und das habe ich durch diese wirklich bewegende Erfahrung in Nürnberg unterbrochen. Nun werde ich daran weiterarbeiten, und ich wünsche mir sehr, Ihnen den Film der da entsteht irgendwann zeigen zu können.“  

Der Abschluss im Foyer wurde freilich zu einer länger andauernden Veranstaltung, viel gab es noch bei Getränken und Häppchen zu erzählen und auszutauschen, bevor dann tatsächlich nach und nach Abschied genommen wurde. Und Danke zu sagen, und dieser Dank (und das ist auch ganz persönlich gemeint) gilt vor allem an Christiane Schleindl, die Leiterin des Filmhauses und Initiatorin und Kopf der Nürnberger Reitz-Retrospektive, ohne deren unermüdlichen, hingebungsvollen Einsatz und Fleiß diese einmalige Reihe zumal mit dem großartigen Rahmenprogramm nicht möglich gewesen wäre. Zudem Patricia Litten, die an (fast) jedem Abend die Zuschauer an die Hand nahm, gut vorbereitet, eloquent und charmant. Und schließlich dem ganzen Team des Filmhauses im Künstlerhaus Nürnberg. Sie alle haben etwas sehr besonderes, einmaliges geleistet. Etwas, was kaum zu überbieten sein wird. Herzlichen Dank, und herzlichen Glückwunsch. Auf dass das Loch, in das manche nun nachdem alles gezeigt und gesagt wurde, fallen werden, nicht zu tief und breit sein möge.

 Einen weiteren Bericht von der Retrospektive finden Sie hier.


[1] Berichte dazu bei deutschlandfunk.de und im Tagesspiegel, hier zudem das Infoblatt des Internationalen Forums des jungen Films der Berlinale, wo die Kübelkind-Filme 1971 gezeigt wurden.

[2] Zitat der Website von Ula Stöckl entnommen.

[3]  vgl. Jürgen Trabant: DER HIMMEL, DAS HAUS, DAS GOLD, DER GUTE MANN UND DAS NICHTS. DIE AMERIKANISCHEN SPRACHEN UND DAS WELTBEWUSSTSEIN DER ANDEREN MODERNE, in: Literatur leben. Festschrift für Ottmar Ette, hrsg. von Albrecht Buschmann, Julian Drews, Tobias Kraft, Anne Kraume, Markus Messling und Gesine Müller, Frankfurt/Main 2016, S. 274ff., Ausschnitt online unter http://juergen-trabant.de/wp-content/uploads/2012/10/Trabant-2016q-Fs-Ette.pdf, Aufruf 5.3.2018