Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Edgar-Reitz-Wochenende im Rahmen des Filmfestivals Simmern, 2.-4.8.2019

„Heimat ist dort, wo man in seiner Mitte ist.“
Bericht vom Filmfestival Simmern

von Thomas Hönemann, 06.08.2019

Das Filmfestival Simmern, das im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz unter dem Titel heimat/en vom 13.7. bis 23.8.2019 stattfindet, erlebte am Wochenende einen weiteren Höhepunkt. Auf dem Programm standen der Preview des „Anti-Heimatsfilms“ Fünf Dinge, die ich nicht verstehe von Henning Beckhoff, eine Podiumsdiskussion zum Thema Heimatfilme im Wandel der Zeit, die Open air-Aufführung von Die andere Heimat in Verbindung mit zwei Drehortführungen in Gehlweiler, sowie die Aufführung des Films Abschied von gestern, bei dem Edgar Reitz Mitte der 1960er-Jahre die Kamera führte.

Auf dem Weg in den Hunsrück nutzte ich die Gelegenheit, einen bedeutsamen Drehort von HEIMAT aufzusuchen, den ich erst jetzt (dank der Satellitenansicht in Google-Maps) ausfindig machen konnte: Der Ort, an dem im zweiten Film Eduard und Lucie auf der Reise in Eduards Heimat Rast machen, ebenso wie Eduard und Paul im achten Film auf ihrer Spritztour. Details dazu finden Sie auf der Drehorte-Seite.

Zudem habe ich mir meiner Frau am Freitagmorgen die „Traumschleife HEIMAT“ erwandert, ein wunderschönes Erlebnis, das ich jedem, der Freude an Natur und Bewegung hat, sehr empfehlen kann. Der Ausblick über den Rhein nahe Reinbay ist übrigens Station auf einer anderen Traumschleife, nämlich der Traumschleife Rheingold.

Am Freitagabend zeigte das Pro-Winzkino in einem Preview vor Kinostart den Film Fünf Dinge, die ich nicht verstehe von Henning Beckhoff. Im Gespräch mit dem Kurator und Moderator der Reihe, dem Filmwissenschaftler Urs Spörri, berichtete Beckhoff, der Absolvent der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ist, von den Umständen der Entstehung. Der Premiere auf dem Marktplatz seines Heimatortes Ennepetal am Rande des Ruhrgebietes habe er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen, habe er doch nicht einen Film zeigen können, der zeigt, wie schön es dort ist, sondern die Geschichte eines Jungen, der sich dort nicht wohlfühlt und schließlich der Heimat den Rücken kehrt. Auch Beckhoff hat bei seinem Film mit Laiendarstellern zusammengearbeitet. „Es gab keine Hierarchie am Set, es war von Anfang an klar, man lässt sich auf eine gemeinsame Suche ein“, beschrieb Beckhoff die Zusammenarbeit von Laiendarstellern und Profis (allen voran Peter Lohmeyer, der die Rolle des Vaters spielt). Fünf Dinge, die ich nicht verstehe wird ab Oktober im Kino zu sehen sein.

Anschließend fand eine Podiumsdiskussion zum Thema Heimatfilme im Wandel der Zeit statt, zu der Urs Spörri neben Edgar Reitz und Henning Beckhoff auch den Filmproduzenten Tobias Walker von der Firma Walker & Worm (u. a. Produzenten von Picco, Finsterworld, Sommerhäuser und Das Ende der Wahrheit) begrüßen durfte. Spörri eröffnete die Runde mit der Frage danach, was „Heimat“ persönlich für die drei Filmschaffenden bedeute. In dem Kontext erzählte Reitz die Geschichte der Genese des Titels seiner Filmserie HEIMAT, und klagte augenzwinkernd „seit vierzig Jahren werde ich von allen möglichen Institutionen eingeladen und gefragt, was Heimat ist, ich sitze nun hier zum zweihundertfünfzigsten Mal …“. Aus Sicht des Filmemachers sagte er, es seien die Bilder, die berühren und ein Gefühl von Heimat auslösen.
Kontrovers verlief die Diskussion darüber, ob man den von Walker produzierten Film Finsterworld, der dem Land einen Spiegel im Hinblick auf die Abgründe des deutschen Alltags und Wesens aufzeigt, als einen Heimatfilm einordnen könne. Reitz forderte hierbei eine klare Differenzierung: „Die Nation ist nicht Heimat (…). Hier geht es um die Frage ‚Was ist deutsch‘?“, bei seinen Filmen gehe es hingegen um die Frage „Was ist das Leben in einer bestimmten Beziehung zur Landschaft.“, und er ergänzte: „Es ist etwas, was aus der Welt der Kinder kommt, und die Nation kommt aus der Welt der wildgewordenen Erwachsenen.“, somit sei der Begriff Heimat durch Finsterworld (Reitz: „das ist etwas zwischen Satire und Dokumentation“) kaum berührt. Er sei anders als früher nicht mehr so skeptisch gegenüber den Heimatfilmbegriff, „der Heimatfilm ist das einzige deutsche Filmgenre“ – was auch damit zusammenhängt, dass der Begriff Heimat nicht in eine andere Sprache zu übersetzen sei.

Sehr deutlich wurde zwischen dem „alten“ und dem neuen Heimatfilm unterschieden. „Die alten Heimatfilme“, so Reitz, „haben doch gar nicht hingeschaut. Die haben eine bestimmte Vorstellung im Kopf ‚was ist schön, was tut wohl‘, und drehen nach Möglichkeit irgendwo an schönen idyllischen Motiven, an einem Sommertag irgendwo in den Bergen, … die lassen sich gar nicht auf die Situation ein. Und das ist absolutes Gegenteil dessen, was wir Heimat nennen. Heimat hat immer damit zu tun, dass man sich darauf einlässt, da kann man sich nicht einfach irgendwie auf Distanz halten. Und das ist ja auch, was uns die Heimat so schwer macht, man kann sie nicht auf Distanz halten, man ist entweder davon gefangen, oder man rennt weg, … das ist der klassische Konflikt: Lässt man sich darauf ein, dann stimmt der Laden, aber sobald er stimmt kommt der Fluchtinstinkt, weil genau das hat man dann eben auch nicht gewollt, weil es der persönlichen Entfaltung widerspricht. Diese Widersprüchlichkeit ist in dem Heimatbegriff immer vorhanden. Heimat als widerspruchslose Höchstvorstellung ist der schiere Kitsch und auch Lüge.“ 

Heimat sei „eine aus dem Gefühl ihres Verlustes geborene Sehnsucht“, beschrieb Edgar Reitz Heimat als die Quelle künstlerischer Schaffenskraft und Initiative, als „eine Sehnsucht die uns wach hält“. Heimat sei für ihn immer eine Antriebskraft gewesen, „und die heißt nicht zurückkehren, sondern aus dem Gefühl das darin steckt immer etwas Neues zu machen.“

Mir persönlich fiel auf, dass an keiner Stelle des Gesprächs der Begriff Heimatfilm überhaupt definiert worden war. Hierfür fand sich aus meiner Sicht indirekt eine schöne Antwort, als Reitz erzählte, wie er in dem Winter 1979 eingeschneit auf der Insel Sylt dazu kam, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Er beschrieb den Konkurrenzdruck in der Filmbranche, und warnte: „Bei diesem Kampf verliert man seine Mitte, denn alles was man erreichen kann ist außen, und je erfolgreicher die Dinge zu sein scheinen, umso mehr reißen sie einen aus der eigenen Mitte heraus.“ Er habe seinerzeit seinen größten Ehrgeiz in den Schneider von Ulm gelegt, aber sei damit gescheitert, „weil der Film alles erreicht hat, nur die Mitte aus der ich kam verloren.“ Dies sei ihm in der Abgeschiedenheit auf Sylt bewusst geworden, „und diese Wende zur Heimat hieß eigentlich, diese Mitte wieder zu suchen – und zu finden.“ Demnach ist ein Heimatfilm der Film, der aus der persönlichen Mitte seines Machers heraus entsteht, angetrieben von seiner inneren Suche nach dem Sehnsuchtsort, den er nie finden können wird.

Einig war sich die Runde, dass die neue Beschäftigung mit Heimat auch im Film der Entpersönlichung, der Standardisierung (z. B. der Kommunikation) und drohenden Spaltung der Gesellschaft entspringe. Reitz: „Es fehlt mehr und mehr das elementar persönliche. Darunter verstehe ich das einmalige, nie mehr wiederkehrende. So wie jeder von uns nur einmal auf der Welt existiert und mit jedem Atemzug nur einmal ist und nie mehr wieder. Das ist das Wunder des Lebendigen überhaupt, und das geht dabei verloren, und in der Heimat-Diskussion suchen wir es wieder. (…) Eine gute, nachhaltige Politik kann nur eine sein, die diesem unmittelbaren Leben dient, und nicht irgendwelchen Fetischen von Marketing-Ideen und was sonst so herumläuft.“

Zum Abschluss der Runde führte Spörri noch eine Grußbotschaft von Regisseur Christian Schwochow vor, die einen exklusiven Einblick in seinen neuen Film Deutschstunde nach Siegfried Lenz enthielt, der am 3. Oktober in die Kinos kommt.

Am Samstagnachmittag stand eine Führung durch den Drehort Gehlweiler an. Die Schabbacher Kultur- und Heimatfreunde hatten viel Herz in die Vorbereitung und Gestaltung dieses Nachmittags gelegt, zum Beispiel (mit großem Erfolg) die Schauspieler eingeladen (anwesend waren am Samstag Marita Breuer, Maximilian Scheidt, Barbara Philipp, Rüdiger Kriese, Astrid Roth und Helma Hammen – letztere drei auch aktiv als Mitglied der Schabbacher Kultur- und Heimatfreunde -, am Sonntag zudem Kurt Wagner und Johannes Metzdorf-Schmidthüsen), den Platz am kleinen Häuschen an der Brücke, in dem die Innenaufnahmen für Die andere Heimat gedreht wurden, gemütlich und informativ hergerichtet sowie für leckere Verpflegung gesorgt. Die Führung am Samstag startete unter großem Interesse mit knapp 100 Interessierten aus Nah und Fern vor dem Simonhaus. Nachdem Edgar Reitz lebhaft etwas zur Entstehung der Kulissen für erzählt hatte, fand Marita Breuer (sinngemäß) bewegende Worte: ‚Dieser Ort hat für mich etwas Magisches, seine Aura berührt mich sehr, ich verbinde damit viele wunderschöne, tiefgehende Erfahrungen.‘ Gefragt nach ihrer Rolle in Die andere Heimat erzählte sie, sie habe sich manchmal schon beim Berühren der Türklinke des Simon-Hauses bewusst machen müssen, nun mit einer anderen Rolle als der Maria aus Heimat betraut zu sein.

Anschließend teilte sich die große Gruppe und Helma und Ernst Hammen übernahmen den Gang durch den Ort, der gemütlich bei Kaffee, Kuchen und netten Gesprächen am Haus an der Brücke ausklang.

Impressionen von der Führung durch Gehlweiler:


Ein nächster Höhepunkt stand am Samstagabend an: Das Pro-Winzkino zeigte Die andere Heimat, den ersten Teil aufgrund der Helligkeit im Kinosaal, den zweiten Teil open air auf dem Fruchtmarkt. Edgar Reitz führte in den Film ein mit den Worten „Diese Produktion ist ein glücklicher Film gewesen, und geblieben. Ich sage das deswegen weil wir, die wir diesen Film gemacht haben, bei dieser Gelegenheit Freunde fürs Leben geworden sind. Und daran kann man vieles ermessen. Wenn man etwas zusammen geschaffen hat, und auch nach Jahren bleibt es noch eine gute Erinnerung, das ist schon ein Maßstab.“ Erfreulicherweise waren im Pro-Winzkino auch viele Besucher zu Gast, die den Film noch nicht gesehen hatten, auch junge Menschen. Reitz berichtete über die Entstehung des Filmes, wie wichtig ihm und seinem Team es gewesen sei, die historischen Gegebenheiten sehr präzise und authentisch darzustellen. Dies habe zur Folge gehabt, dass alle im Film verwendeten Requisiten entweder aus der damaligen Zeit stammten oder eigens für den Film per Hand hergestellt wurden – bis hin zur Unterwäsche, die die Darsteller getragen haben: „die bewegen sich dann anders“. „Diese Bilder werden Sie so nie wieder im Film zu sehen bekommen. Das ist eine Bilderwelt, die gibt es nicht nochmal. Das kann man nur erreichen, wenn man wirklich diese Konsequenz eingeht, mit seinen eigenen Händen alles selbst zu machen. Und das ist die Wurzel, die Herkunft, und da ist auch unsere Bewunderung nicht nur für das Leben dieser Menschen, für ihre Kenntnisse, sondern auch für ihre Not und ihre Enttäuschung, die das Leben bietet. Daher kommt das Mitgefühl, das man hat.“ Auch am nächsten Tag äußerste sich Edgar Reitz in kleiner Runde sehr zufrieden mit dem Film, „das haben wir ganz gut gemacht“, äußerste er augenzwinkernd, und „der Film wird auch in zehn Jahren noch Bestand haben.“

Zurück zu seinen Wurzeln führte uns Edgar Reitz dann am Sonntagmorgen im Kino Heimat in seinem Elternhaus in Morbach. Gezeigt wurde einer der ersten Spielfilme zweier Köpfe des Oberhausener Manifests, Abschied von Gestern von Alexander Kluge, bei dem Reitz die Kamera führte. Reitz berichtete über die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, der als Jurastudent und Autor „wenig Ahnung“ vom Filmemachen gehabt habe, und sich daher sehr schwer mit der Besetzung der wichtigsten zwei Aufgaben im Team getan habe: Der Hauptrolle, für die er schließlich seine Schwester Alexandra wählte, die seinerzeit Medizin studierte, auswählte, und als Kameramann Edgar Reitz, den er bereits lange kannte und dem er vertraute. Augenzwinkernd führte Reitz in den Film ein: „Es ist ein Film von Alexander Kluge. Das Talent von Kluge besteht bis heute in der Montage. Das Material, das wir in den Monaten gefilmt hatten, wollte eigentlich ein ganz anderer Film sein, nämlich eine zusammenhängende Erzählung. Aber sein Interesse ging mehr in Richtung der dokumentarischen Zeitgeschichte, also alles Mögliche, was am Wegesrand passierte, mit einzufangen und in die Geschichte hineinzubringen. Sie werden einen Film erleben, der erzählt zwar die Geschichte dieser streunenden jungen Frau, die wie die Schwester von Kluge selbst aus dem Osten nach Westdeutschland kommt, die nicht weiß wo sie hingehört (…), aber das ist in dem wirklichen Film dann durchsetzt mit zahllosen assoziativ hinzumontierten Szenen, das macht das Ganze ein bisschen brüchig und sprunghaft, das ist vielleicht der besondere Charakter. Aber nehmen Sie es nicht zu ernst, (…) das hat nicht immer so einen Tiefsinn wie man meint, wenn man sich es nicht erklären kann. Wir Deutschen meinen ja immer, wenn man etwas nicht sofort versteht, es hätte einen tieferen Sinn, aber das ist nicht immer der Fall.“

Im Trierer Volksfreund berichtet Ilse Rosenschild über die Veranstaltung in Morbach.

Ein großartiges eindrucksreiches Wochenende einmal wieder. Mein persönlicher herzlicher Dank gilt allen, die mir und vielen anderen begeisterten Teilnehmern diese schöne Erfrahrung möglich gemacht haben, in besonderer Weise Wolfgang Stemann und seinem Team vom Pro-Winzkino SImmern, den Schabbacher Kultur- und Heimatfreunden, dem Team vom Café HEIMAT in Morbach sowie Urs Spörri, der durch seine kompetente, lebhafte, begeisterte und zugewandte Moderation dem ganzen einen wundervollen roten Faden verliehen hat.

Schließlich noch ein paar Schnappschüsse vom Wochenende: