Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Das Oberhausener Manifest

Plakat VIII. Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen 1962: Plakatarchiv der Kurzfilmtage, https://www.kurzfilmtage.de/de/archiv/#c235

Am 28. Februar 1962 versammeln im Rahmen der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen 26 junge Filmschaffende die Presse im Vortragssaal der Volkshochschule, um zu erklären: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Die Initiative der Oberhausener Gruppe kommt einer Revolte gleich: „Wir erklären den Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen.“, heißt es.

Die Aktion wurde initiiert von „der Gruppe DOC 59 aus München unter der Leitung von Haro Senft. Der Text wurde von Ferdinand Khittl verlesen, die Moderation der nachfolgenden Diskussion übernahm Alexander Kluge.“ Aus heutiger Sicht gilt dieses Ereignis als ein Meilenstein der deutschen Filmgeschichte, nämlich die „Geburtsstunde des Neuen deutschen Films und damit auch den Beginn der gesellschaftspolitischen Trendwende der bundesdeutschen Filmkultur nach dem Zweiten Weltkrieg. 1982, zwanzig Jahre später, wurde der Oberhausener Gruppe der Deutsche Filmpreis verliehen.“1

Reproduktion des Originaldrucks des Oberhausener Manifests, der in schwarzer Schrift auf einem blaugrauen Faltkarton in der Größe 15 x 21 cm verteilt wurde. Fundort: wikipedia.de, aus dem Nachlass von Haro Senft.
Foto aus der Pressekonferenz. Am Pult Alexander Kluge, etwas links von der Bildmitte im dunklen Anzug Edgar Reitz, damals 29 Jahre alt. Foto: Archiv der Kurzfilmtage

Alexander Kluge gerät zum Wortführer der Sitzung, „und wir standen nur hinter ihm mit blassen Gesichtern und guckten trotzig.“, erinnert sich Edgar Reitz 50 Jahre später in einem Interview mit dem WDR. Denn die 26 haben eine denkbar schlechte Verhandlungsposition: „Es war uns allen klar, dass wir uns in einer Weise in die Öffentlichkeit drängten, die unseren Leistungen, die wir bis dahin erbracht hatten, gar nicht entsprach“. Keiner der 26 hat bis dahin einen Langfilm geschaffen. Es mangelt keineswegs an Ideen, Konzepten und Visionen. Das Problem ist vielmehr, dass die deutsche Filmwirtschaft noch immer von den Strukturen der Zeit vor dem Krieg, den „alten UFA-Seilschaften“2, dominiert wird, die vorwiegend kommerzielle, nicht aber künstlerische Zielsetzungen verfolgen. „Das Nachkriegskino Deutschlands ist die UFA ohne Göbbels“, sagt Edgar Reitz 2020 in einem Interview mit dem SWR.10 Nur gut 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges laufen vor allem eine heile Welt suggerierende „Adelsschnulzen und Heimat-Kitsch“2 wie z. B. Der Förster von Silberwald, Grün ist die Heide, Im weißen Rössl und die Sissi-Filme über die Leinwände, aber kaum sozialkritische und/oder gar künstlerisch anspruchsvolle Filme. Die Möglichkeiten der Jungfilmer, in der Branche Fuß zu fassen, ihre Kreativität zu entfalten und in die Öffentlichkeit zu bringen, sind durch die verkrusteten, kartellähnlichen Marktstrukturen versperrt. „Es gibt keine nennenswerte Filmförderung und auch keine Ausbildungsmöglichkeiten für den Nachwuchs.“2

Die Jungfilmer erkennen auch ihre gesellschaftliche Verantwortung: Es gilt, die Zeit des Nationalsozialismus zu thematisieren, die Vergangenheit mit kritischem Blick zu bewältigen, anstatt die Menschen, die diese belastende Erfahrung in sich tragen, im Verdrängen zu unterstützten, wie es die alles dominierenden Produktionen des „Schnulzenkartells“2 bis auf wenige Ausnahmen (wie z. B. Die Brücke von Bernhard Wicki) tun.

Künstlerisches Vorbild der Jungfilmer ist die französische Nouvelle Vague, von der sie insbesondere das Konzept des Autorenfilms übernehmen. Es verkörpert die ersehnte Freiheit in der inhaltlichen und künstlerischen Gestaltung von Filmen. In Die zweite Heimat legt Edgar Reitz Jungfilmer Rob auf das Stichwort Primärton in den Mund: „Kennen Sie die Nouvelle Vague in Frankreich? Die machen uns das vor. Raus aus den Studios – rein ins Leben!“3 Und sie kopieren den Slogan ihrer französischen Vorbilder: „Le cinéma de papa est mort.“ – „Papas Kino ist tot!“ skandieren tausende von kleinen grünen Aufklebern – wobei oftmals zu Recht darauf hingewiesen wird, dass dieser provokative Slogan dem eigentlichen Inhalt des Manifests nicht gerecht wird.

Die Presse reagiert zunächst ablehnend, unterstellt den Jungfilmern Anmaßung und Taktlosigkeit. Doch ihr Protest fällt auf fruchtbaren Boden: Die alte deutsche Filmwirtschaft steckt seit Jahren unübersehbar in einer tiefen qualitativen Krise, die in den Bankrott der UFA (1962) mündet. „1961 wird (.) der Bundesfilmpreis nicht verliehen, weil kein einziger Spielfilm gut genug erscheint. Bei den Filmfestspielen von Venedig lehnt man alle fünf deutschen Vorschläge ab.“2 Gleichzeitig tritt das Fernsehen seinen Siegeszug in die Haushalte an4 und die Bevölkerung wird der beliebig austauschbaren Heile-Welt-Szenarien überdrüssig. Der damals erst 28jährige Filmkritiker Joe Hembus veröffentlicht 1961 das vielbeachtete Buch Der deutsche Film kann gar nicht besser sein: ein Pamphlet von gestern, eine Abrechnung von heute. „Im Zentrum der Attacke stehen die Produzenten und Verleiher, die ohne Mut und Phantasie immer die gleichen Genres und Stoffe von immer denselben Regisseuren realisieren lassen und kein spürbares Interesse an einer Erneuerung haben.“5

Der Auftritt der Gruppe wird mit Teilerfolgen belohnt, vor allem allerdings deshalb, weil ihre Mitglieder selbst Initiative, Engagement und Beharrlichkeit zeigen: Edgar Reitz gründet 1963 zusammen mit Alexander Kluge und anderen Jungregisseuren die erste Filmschule der Bundesrepublik, das Institut für Filmgestaltung an der HfG Ulm, an dem er bis zur Schließung 1968 Regie und Kameratheorie lehrt. In München entsteht auf Initiative von 14 Mitgliedern der Oberhausener Gruppe die „Stiftung junger deutscher Film, die 1965 in die öffentliche Filmförderungseinrichtung Kuratorium junger deutscher Film umgewandelt“ wird.1 „Die Fördermaßnahmen des Kuratoriums sind bis heute einmalig, da sie speziell darauf abgestimmt sind, junge Talente zu fördern und den Nachwuchs des Autorenkinos zu stärken“, bekundet Edgar Reitz.6 Und schließlich plant Innenminister Höcherl in seinen Haushalt ein Budget von 5 Millionen DM für die Filmförderung ein, das fortan nicht nur für die Entwicklung von Drehbüchern, sondern auch für die Regiearbeit beansprucht werden kann.

Das Kuratorium fördert als ersten Film Alexander Kluges Debut Abschied von Gestern, bei dem Edgar Reitz die Kamera führt. 1967 veröffentlicht Reitz dann, ebenfalls unterstützt durch das Kuratorium, seinen ersten eigenen Film Mahlzeiten. Beide Filme erringen hochrangige Auszeichnungen: Abschied von gestern erhält bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig einen silbernen Löwen und beim Bundesfilmpreis 1966 das Filmband in Gold für den besten Spielfilm, besten Regisseur, beste Hauptdarstellerin und besten Nebendarsteller. Mahlzeiten wird, ebenfalls in Venedig, als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet.

Bereits bei der Entstehung von Mahlzeiten sieht sich Edgar Reitz übrigens gezwungen, mit einem maßgeblichen Konsens der Kunstschaffenden der frühen 1960er Jahre (insbesondere also auch der Oberhausener Gruppe) zu brechen, nämlich „alles narrative als Tabu zu betrachten“.7 Er gab die „Pflicht zur Brüchigkeit und zur Abstraktion“ zugunsten eines langen erzählerischen Atems auf, der ihn bis heute so besonders macht und schließlich auch so erfolgreich hat werden lassen. Ähnlich formuliert es für sich rückblickend Hark Bohm: „Ich wollte Geschichten erzählen, und nicht in erster Linie ein politisches, ästhetisches oder moralisches Problem für Intellektuelle erörtern wie etwa Die bleierne Zeit (…) oder Messer im Kopf (…). All diese Filme habe ich mit Bewunderung gesehen, aber sie entsprachen nicht meinem Naturell als Erzähler“, meine Filme „Nordsee ist Mordsee und Moritz lieber Moritz haben stark autobiographisches Züge“.8

Quelle: film Nr. 11, Nov. 1967, S. 1

Doch trotz der vielen Erfolge der jungen deutschen Filmschaffenden erweisen sich die Veteranen des „alten Kinos“ als zäh. Dies zeigt sich auch anhand der Mannheimer Erklärung, die Edgar Reitz (damals Jurymitglied) und andere anlässlich der 16. Internationalen Mannheimer Filmwoche im Oktober 1967 abgeben. Darin wird vor allem die rein ökonomische Ausrichtung der Filmwirtschaft scharf kritisiert.

Eine letztes Aufbäumen des „alten Films“ ist Anfang der 1970er Jahre in Form einer Welle von (häufig durch den Appendix „-Report“ Aufklärung suggerierenden) Softsexfilmen zu verzeichnen. In dieser Zeit entstehen die Geschichten vom Kübelkind, mit denen Ula Stöckl und Edgar Reitz notgedrungen und gleichzeitig ganz bewusst eine neue Form der Verbreitung von Filmen anstoßen: „Der Film verlässt das Kino“9, das auch ein Jahrzehnt nach dem Manifest und trotz der zwischenzeitlichen Erfolge der Jungfilmer noch in Papas Hand ist.

Doch schließlich ist, auch mit bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel der späten 1960er und 1970er Jahre, das Ende von „Papas Kino“ tatsächlich besiegelt; die letzten kommerziellen Erfolge der alten Generation erweisen sich als Strohfeuer, weil die gelieferten Produkte aus qualitativen und inhaltlichen Gründen nicht nachhaltig sein können. Hinzu kommt, dass in den Fernsehanstalten mutige, unabhängige und innovative junge Menschen wie Günther Rohrbach und Joachim von Mengershausen Verantwortung tragen, die den Wert der Arbeit der jungen Generation der Filmemacher erkennen und mit ihnen kooperieren.

Alexander Kluge, Edgar Reitz und die anderen „Oberhausener“ haben mit ihrem mutigen Vorstoß somit eine Tür geöffnet, durch die auch später Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog und viele andere erfolgreiche junge deutsche Regisseure gehen sollten. Ein Meilenstein für die Entwicklung des deutschen Films!

Neun der zehn seinerzeit noch lebenden Unterzeichner des Oberhausener Manifests beim „Preview“ der Dokumentation „Die Rebellen von Oberhausen“ in der Kunsthochschule für Medien (KHM) Köln, 23.04.2012: Christian Doermer, Dieter Lemmel, Bernhard Dörries, Edgar Reitz, Rob Houwer, Hansjürgen Pohland († 2014), Wolfgang Urchs († 2016), Ronald Martini, Alexander Kluge und der Leiter der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage 1962, Hilmar Hoffmann. Es fehlt Haro Senft († 2016). Quelle der Abbildung: critic.de.

Epilog 1

In einem Interview mit mit Christiane Peitz vom Tagesspiegel äußert sich Edgar Reitz im September 2013 auch zum Oberhausener Manifest:

Vor gut 50 Jahren gehörten Sie zu den Initiatoren des Oberhausener Manifests, in dem Papas Kino für tot erklärt wurde. Wie nehmen Sie diesen Aufbruch heute wahr?

Ich staune über unseren maßlosen Freiheitsanspruch. Künstlerisch hatten wir nichts vorzuweisen, finanzierbar war unser Anspruch erst recht nicht. Eigentlich waren unsere frühen Filme alle nur Pilotprojekte, mit denen wir programmatisch darstellten, was wir meinten. Aber das Instrumentarium für eine Neugestaltung des Films beherrschten wir nicht. Jeden Tag standen wir an unseren eigenen Grenzen. Heute ist die Welt verteilt, jeder verteidigt seine Domäne, sei es im Fernsehen oder bei den Filmförderanstalten.

Sie fordern immer mal wieder die Abschaffung der staatlichen Förderung, obwohl Sie sie selbst mit erkämpft haben.

Die Verknotung des Kinos mit dem Fernsehen ist schlecht, die beiden müssen entflochten werden. Ein neues Oberhausen ist fällig. Aber das müssen die jungen Filmemacher von heute organisieren.


Epilog 2

„Die Bedeutung von Oberhausen wächst immer noch weiter. Es ist ein wichtiges Datum der Filmgeschichte geworden, und ich kann mir vorstellen, dass sich eines Tages eine junge Generation damit identifiziert und die Oberhausener Ideale für ihre Zukunft neu entdecken wird.“

Edgar Reitz in einer Mail an Th. H. anlässlich der Revision des Entwurfs dieses Artikels, 17.02.2021


Weiterführende Literatur

Lars Henrik Gass und Ralph Eue (Hrsg.): Provokation der Wirklichkeit: Das Oberhausener Manifest und die Folgen, München (edition text + kritik) 2012

Norbert Grob, Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler (Hrsg.): Neuer Deutscher Film (Stilepochen des Films), Ditzingen (Reclam) 2012

Beat Presser: Vor der Klappe ist Chaos: Eine Hommage an den Neuen Deutschen Film, Leipzig (Zweitausendeins) 2020

Beat Presser: Aufbruch ins Jetzt. Der Neue Deutsche Film im Gespräch, Leipzig (Zweitausendeins) 2021

Norbert Grob und Bernd Kiefer (Hrsg.): Nouvelle Vague, Mainz (Bender) 2006

Robert Fischer und Joe Hembus: Der Neue Deutsche Film 1960-1980. Mit einem Vorwort von Douglas Sirk, München (Citadel-Filmbücher bei Goldmann) 1981

Spiegel Nr. 65/1967 Titelstory Der junge deutsche Film – Kino zwischen Kunst und Kasse (S. 86-96, online verfügbar)

Georg Lacher-Remy: Feiern? Trauern? Kämpfen! 25 Jahre Oberhausener Manifest, in: Filmbulletin 2/87, Heft Nr. 153, April/Mai 1987, S. 40-43, online verfügbar

Dokumentationen

Jason (= Hansjürgen) Pohland: Die Rebellen von Oberhausen. Dokumentation anlässlich des 50. Jahrestages des Oberhausener Manifests, arte 2012 (Kritik von Thorsten Funke auf critic.de).

Robert Fischer: Der Film verlässt das Kino: Vom Kübelkind-Experiment und anderen Utopien, 2018, vgl. Bericht aus Nürnberg und Dokumentationen.


Quellenangaben

1 Wikipedia (Hervorhebungen ersetzen Anführungszeichen).
2 Christiane Kopka, wdr ZeitZeichen 28.02.1962 – „Oberhausener Manifest“
3 Edgar Reitz: Die Zweite Heimat. Chronik einer Jugend in 13 Büchern, München (Goldmann) 1993, S. 47.
4 Der Anteil der Menschen in Westdeutschland mit Zugang zu einem Fernseher stieg in dieser Zeit dramatisch: 1956 4%, 1960 24%, 1965 64%, 1971 88%. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung.
5 Helmut Prinzler in seiner Rezension des Buches. Mehr zur Krise der deutschen Filmwirtschaft in den 1960er Jahren finden Sie hier.
6 www.kuratorium-junger-film.de
7 vgl. Thomas Koebner und Michelle Koch (Hrsg.): Edgar Reitz erzählt, München (edition text+kritik) 2008, S. 47f.
8 Beat Presser: Vor der Klappe ist Chaos: Eine Hommage an den Neuen Deutschen Film, Leipzig (Zweitausendeins) 2020, S. 78
9 so der Titel der Dokumentation von Robert Fischer, s. o.
10 Edgar Reitz „Ich habe mich als Pionier gefühlt“, Interview in der SWR-Reihe Zeitgenossen, Erstsendung 2.5.2020