Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Deutsche Filmgeschichte: Die Münchner Erklärung 1983

Ende Juni 1983 verlas Wim Wenders im Namen der Bundesfilmpreisträger bei der Preisverleihung in Berlin folgende eine Woche zuvor, am 21.6.1983 beim ersten Münchner Filmfest, verfasste und von fast allen für den Neuen Deutschen Film bedeutsamen Regisseuren unterzeichnete Erklärung:

„Politische Bewertung von Kunst hat Tradition in unserem Land. Sie berührt die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Sie richtet sich gegen alle, die jetzt nichts mehr unversucht lassen, mit der ihnen eigenen Rücksichtslosigkeit die Kontrolle über uns, unsere Köpfe, unsere Filme zu bekommen. Man täuscht sich allerdings, wenn man glaubt, uns auseinanderdividieren zu können. Wir haben ein gemeinsames Selbstbewusstsein: 20 Jahre Neuer Deutscher Film. Ein Angriff auf ihn ist ein Angriff auf Fantasie und Kreativität. Wir werden Mittel und Wege finden, die Kunst vor ihren Henkern zu schützen. Wenn Politiker sich um jeden Preis mit uns anzulegen wünschen, so werden sie uns bereit finden.“

Münchner Erklärung vom 21.6.1983, zit. nach Hans Helmut Prinzler und Eric Rentschler (Hrsg.), Der alte Film war tot. 100 Texte zum westdeutschen Film 1962-1987, Frankfurt am Main 2001, S. 36

Dieses äußerst politische Statement fällt in eine Zeit, in der der neue deutsche Film sich in einer Krise befindet. Noch 1980 hatten Robert Fischer und Joe Hembus (der 1961 mit „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“ eine herbe Abrechnung mit „Papas Kino“ herausbrachte) die Blüte des Neuen Deutschen Films bejubelt: „Es lässt sich kaum ein Kino eines bestimmten Landes zu einer bestimmten Zeit denken, das den aktuellen Ereignissen seines politisch-soziologischen Umfeldes so dicht, so intelligent und phantasiereich auf den Spuren bleibt und prophetisch antizipiert wie der Neue Deutsche Film, so schnell und gierig ist im Aufspüren und Festhalten von dem, was heute schon auf den Nägeln brennt und morgen ein noch heißeres Thema sein wird, so traumwandlerisch sicher in seinen Hochrechnungsinstinkten.“1

Gewann 1980 den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“: Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff mit dem damals 13jährigen Hauptdarsteller David Bennent.

„Dieser Jubel geht mit einer Reihe von internationalen Preisen einher. 1980 erhält Volker Schlöndorff einen Oskar für Die Blechtrommel, 1982 wird ein Oskar für Mephisto (R: István Szabo, 1981) vergeben. Im gleichen Jahr gewinnt Die Sehnsucht der Veronika Voss den Goldenen Bären in Berlin, Fitzcarraldo repräsentiert die Bundesrepublik in Cannes, Werner Herzog bekommt den Preis für die beste Regie, Wim Wenders’ Der Stand der Dinge gewinnt das Festival in Venedig, Alexander Kluge erhält den Goldenen Löwen für sein Gesamtwerk.“2

Von 1983 an sieht vieles anders aus. „Der deutsche Film schiebt den Blues“, diagnostiziert Walter Uka rückblickend, der „erzwungene Stillstand“ in Wim Wender’s Der Stand der Dinge stehe „symbolisch für die beginnende Ratlosigkeit von Regisseuren und Produzenten in einem Jahr der Zeitenwende in Gesellschaft und Politik.
Am 16. Juni 1982 wurde eine der Lichtgestalten des Neuen Deutschen Films, Rainer Werner Fassbinder, sechs Tage nach seinem Tod auf des Münchner Südfriedhof in Perlach (in Abwesenheit von Vertretern der Stadt München und des Landes Bayern) beerdigt. Wie zufällig starben im gleichen Jahr zwei Schauspieler-Ikonen der Altbranche: Romy Schneider am 29. Mai und Curd Jürgens am 18. Juni 1982. Nach einem berauschenden Höhenflug des Neuen Deutschen Films in den siebziger Jahren folgten wenig später Katzenjammer und Krise.“3 Zur gleichen Zeit dreht Edgar Reitz infolge seiner persönlichen Krise aufgrund des Misserfolges des Schneider von Ulm im Hunsrück einen Film namens HEIMAT.

Herbert Achternbusch als Jesus in seinem Film Das Gespenst. Der Münchner Autor, Maler und Filmemacher verstarb im Januar 2022 im Alter von 83 Jahren.

Der oberste der in der Münchner Erklärung gemeinten Henker, vor denen es die Kunst zu schützen gelte, ist Friedrich Zimmermann, Innenminister der neuen CDU-CSU-FDP Regierungskoalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl. 1983 sagt Zimmermann dem Autorenfilm den Kampf an, denn „der Steuerzahler habe schließlich ein wohlbezahltes Recht auf Unterhaltungskino„.4 Der Konflikt bricht offen aus, als Zimmermann Herbert Achternbusch die Auszahlung der letzten Rate (75000 DM werden einbehalten, nachdem bereits 225000 DM gezahlt (und nicht zurückverlangt) wurden) seines Bundesfilmpreises für Das Gespenst verweigert. Begründung: Der Film sei „blasphemisch“ – die CDU-Fraktion im Münchner Landtag findet ihn einfach nur „ekelhaft“. „Diese Maßnahme wurde als gravierende Einmischung empfunden, als Akt der Zensur und als Vorwegnahme radikaler filmpolitischer Änderungen. Die westdeutschen Filmemacher erkannten, dass ‚mit Achternbusch wir alle gemeint‘ sind.“5

Das Gespenst ist eine poetische Provokation: wie Luis Bunuels Viridiana oder Ingmar Bergmans Das Schweigen, gegen die unsere Saubermänner auch einst Sturm liefen, bis am Ende niemand mehr diesen Filmen den Rang von Klassikern bestreiten konnte. Man muss Achternbuschs Film nicht einmal für ein Meisterwerk halten, um die künstlerische Ernsthaftigkeit hinter den bizarren Posen des kränkelnden, kalauernden Clowns zu erkennen. Man darf auch Friedrich Zimmermann, Gerold Tandler und anderen Verteidigern der abendländischen Kultur nicht vorwerfen, dass sie sich von Achternbusch provoziert fühlen. Wäre es anders, hätte Das Gespenst [also] keine „sittliche Entrüstung“ hervorgerufen, dann hätte der Film seinen Zweck verfehlt.“6

Die 1980er Jahre markieren das weitgehende Ende des deutschen Autorenfilmes – Edgar Reitz, Alexander Kluge und wenige andere bildeten die seltenen aber auch nicht immer mit Erfolg gesegneten Ausnahmen. Zurückblickend auf das Jahrzehnt resumiert Walter Uka: „Der deutsche Film der achtziger Jahre spiegelte (…) eine vor-postmoderne Zeitstimmung. Er verharrte in einer seltsamen Zwitter-und Zwischenposition, in einem Zustand, wo das Alte noch nicht überwunden, das Neue schon spürbar, aber noch nicht ausgeformt und ausformuliert war. Über allem schwebte eine leichte Melancholie, eine unbestimmbare Sehnsucht, Trägheit und Langeweile, Kater und Überdruss – der Blues.“7


1 Robert Fischer und Joe Hembus: Der Neue Deutsche Film 1960-1980. München (Goldmann) 1981, S. 16.
2 Martina Hartl: Der deutsch-türkische Gegenwartsfilm im Genre-Vergleich. Melodram, Komödie, Dokumentarfilm und deren Möglichkeiten und Grenzen in der Aufbereitung der Thematiken von Migration, Integration und multikultureller Gesellschaft. Diplomarbeit (Mag. Phil.) an der Universität Wien, 2009, S. 129
3 vgl. Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart (Metzler), 2. Auflage 2004, S. 284
4 Walter Uka: Der deutsche Film schiebt den Blues. Kino und Film in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren. In: Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur der achtziger Jahre, Paderborn (Brill | Fink) 2005, S. 105-121, hier: S. 105
5 vgl. Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hrsg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart (Metzler), 2. Auflage 2004, S. 284
6 Hans-Christoph Blumenberg: Gegenschuss. Texte über Filmemacher und Filme 1980–1983, Frankfurt am Main (Fischer) 2016 (1. Auflage 1984)
7 Walter Uka, a. a. O., S. 112

Abbildungsnachweis:
– Plakat Filmfest München 1983: privat, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Besitzerin
– Szenenbild Die Blechtrommel © Studiocanal
– Filmstill aus Das Gespenst von Herbert Achternbusch © Herbert Achternbusch, Fundstelle: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiotexte/zum-tod-von-herbert-achternbusch-100.html
– Beitragsbild: Filmstill aus Der Stand der Dinge von Wim Wenders, für den er 1983 den Bundesfilmpreis erhielt. © Wim Wenders Stiftung