Was für Albrecht Ludwig Berblinger, den „Schneider von Ulm“, der Sturz in die Donau war, wurde für Edgar Reitz sein Film über ihn: Auslöser der tiefsten Lebenskrise.
Wie viele von Ihnen wissen werden, markiert Der Scheider von Ulm (1978) in der Vita von Edgar Reitz einen wesentlichen Wendepunkt. Der unter hohem Aufwand1 produzierte Film, der die tragische Geschichte des Flugpioniers Albrecht Ludwig Berblinger (1770-1829) erzählt, scheiterte in den Kinos aufgrund einer üblen Kritik im Spiegel, die drei Tage vor dem geplanten Kinostart erschien. Edgar Reitz erinnert sich: „Der Kinostart sollte am 21. Dezember 1978 mit insgesamt 20 Kopien erfolgen. Das ist kein Großstart, aber immerhin waren 20 Kinos in Deutschland bereit, an einem Donnerstag vor Weihnachten zu starten. An dem vorausgehenden Montag erschien der Spiegel mit einem grauenhaften Verriss. So einen Vernichtungsschlag an Verriss habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die Folge war, dass von den 20 Kinos sofort 15 abgesprungen sind. Das heißt, sie haben nicht gewagt, einen Film, den der mächtige Spiegel niedermacht, aus Furcht vor einem sicheren Flop überhaupt anzubieten. (…) Mit dieser einzigen vernichten Kritik im Spiegel war unser Film vom Start aus vollkommen zerstört (…) [das hat] mich in die größte Krise meines Lebens gestürzt.“2 So wurden Reitz und Berblinger – wenn auch mit 167 Jahren Versatz – zu Schicksalsgenossen.
Wie wir wissen, sollte sich aber auch in diesem Fall bewahrheiten, dass Krisen oftmals höchst positive Entwicklungen im Sinne von Veränderungen zufolge haben. Edgar Reitz zog sich, fast mittellos, in das Ferienhaus von Freunden auf Sylt zurück, wo er sich, tief eingeschneit von der Außenwelt abgeschnitten, seiner Wurzeln besann. Die Geburt von HEIMAT, eines der erfolgreichsten Filmprojekte aller Zeiten, von Stanley Kubrick vergleichend mit Shakespeares Hamlet und Goethes Faust auf eine Stufe gestellt.
Der genannte Verriss ist heute noch im Online-Archiv des Spiegel zu finden. Autor Wolfgang Limmer, der später als Drehbuchautor und Regisseur bekannt wurde3, schreibt unter der Überschrift „Sturzflug“ vom „bei weitem langweiligste[n] Film des Jahres“. Zitat: „Von den Aufwinden der Phantasie im Stich gelassen, trudelt seine Geschichte durch die Turbulenzen einer Dramaturgie, die so viel Spannung und Interesse erzeugt wie das Verzeichnis der Postleitzahlen. Das ist angesichts eines eigentlich faszinierenden Themas eine besonders rätselhafte Leistung.“4
Edgar Reitz erinnert sich aber auch daran, dass es „danach noch viele positive Kritiken und Kritiker [gab], die dem Film wieder auf die Beine helfen wollten. Das Fatale im Filmgeschäft ist aber, dass ein Film, der einmal im Start durchfällt, nie mehr auf die Beine zu bringen ist. (…) Das hat sich beim Schneider von Ulm bewahrheitet (…). Es gab auch Kritiker, die versucht haben, sich für eine Wiederaufführung des Films einzusetzen. Peter W. Jansen von der FAZ hat danach eine regelrechte Rehabilitierungskampagne gestartet.“2
Ein Beispiel für eine begeisterte Berichterstattung über den findet sich im ZEITmagazin, Beilage zur Wochenzeitung Die Zeit, Nr. 52 vom 22.12.1978. Dort befasst sich Autor Alexander Rost ausführlich (auf vollen 8 Seiten) mit der Geschichte Albrecht Ludwig Berblingers und dem Film, spricht von Edgar Reitz, den er eigens für den Bericht in München besucht hat, als einem „Filmemacher, den man einen Filmdichter nennen darf“5, und mündet in der Feststellung: „Einen interessanteren Film wird man in diesen Tagen nicht sehen können.“6 Dem reich illustrierten Bericht ist anzumerken, wie sehr die Arbeit von Edgar Reitz auch die Begeisterung des Autoren für den „Engel von Ulm“ Berblinger geweckt hat.
Edgar Reitz selbst beschreibt seine Faszination für die Figur wie folgt: „Berblinger war ein Kind der Aufklärung und der Romantik in einem. Naturwissenschaftlich-rationales Denken suchte in ihm die Verbindung zum romantischen Traum des vogelgleichen Fliegens am Himmel der Freiheit. Das wurde auch mehr und mehr mein Thema.“7 Infolge der tiefen Auseinandersetzung mit Berblinger hat Reitz unfreiwillig eine Parallele ihrer beider Lebensläufe hervorgerufen, mit dem Unterschied, dass Berblinger seine Rehabilitation nicht mehr erlebte. „Der Absturz mit seinem Flugapparat war auch mit einem sozialen Absturz verbunden. Man bezeichnete ihn nun als Lügner und Betrüger, was zur Folge hatte, dass auch die Kunden seiner Schneiderwerkstatt ausblieben. Mit 58 Jahren starb er im Hospital völlig verarmt und mittellos an Auszehrung.“8
Seit seinem gescheiterten Flugversuch über die Donau im Jahr 1811, der aufgrund der Fallwinde über dem Fluss zum Scheitern verurteilt war, wurde die Geschichte des Schneiders Berblinger auf die verschiedenste Weise aufgegriffen.
Die spöttische Redewendung „wie der Schneider von Ulm sein“ zog alsbald in den Sprachgebrauch ein – als Synonym dafür, dass jemand gescheitert ist und sich dabei lächerlich gemacht hat.9
„Der Schneider von Ulm hat’s Fliega probiert – no hot’n der Deifel en d‘ Donau nei g’führt.“ So lautet der gängige Spottvers auf Albrecht Ludwig Berblinger. Der Umgang mit ihm ist schizophren: Einerseits dient der Schneider von Ulm der lokalen Folklore als Witzfigur, andererseits feiert ihn die ganze Stadt als ihren Pionier der Luftfahrt.
Homepage der Stadt Ulm
Weit überwiegend finden sich aber inzwischen Würdigungen des Flugpioniers Berblinger, die insbesondere zeigen, dass er auch über 250 Jahre nach seinem Sturz in die Donau unvergessen ist:
Anlässlich seines 250. Geburtstages im Jahr 2020 hat die Stadt Ulm an der einstigen Absprungstelle an der Adlerbastei den Berblinger Turm errichten lassen. Auch technisch bedeutete das um 10 Grad geneigte Konstrukt eine Herausforderung, wie der Pressmitteilung des Instituts Feuerverzinken zu entnehmen ist.
1986 fand anlässlich des 175. Jahrestags des ersten Flugversuchs ein von der Stadt Ulm ausgeschriebener Flugwettbewerb statt, bei dem auch herausgefunden werden sollte, ob eine Überquerung der Donau an dieser Stelle überhaupt möglich gewesen wäre.8 Die Auflösung finden Sie in der zugehörigen unterhaltsamen Amateurfilmdokumentation.
150 Jahre nach Berblingers Sturz in die Donau berichtete der SWR 1961 über den Schneider von Ulm, in der Mediathek unter dem Titel SWR Retro zu sehen, versehen mit vielen historischen Informationen und Dokumenten. 2020 brachte der Deutschlandfunk ein Kalenderblatt anlässlich seines 250. Geburtstages.
Besonders viele Reminiszenzen an Berblinger finden sich in Literatur und Musik:
Bertolt Brecht schrieb das Gedicht Der Schneider von Ulm (Ulm 1592), hier finden Sie eine klassische Interpretation von Walter Jens dazu. Auch Edgar Reitz schrieb bereits als Schüler ein Gedicht über den Schneider, offenbar angeregt von den Zeilen Brechts, zu finden in seiner Autobiographie.10
Der Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth schrieb 1906 seinen Roman „Der Schneider von Ulm. Geschichte eines zweihundert Jahre zu früh Geborenen“. Der schwäbische Liedermacher Hubert Endhart hat 1978 auf seiner Platte „vo mir und uns“ das Lied „dr Berblinger“ veröffentlicht. Der Refrain beginnt mit „Des war dr Berblinger, dr Ikarus von Ulm“. Barbara Honigmann gestaltete den Stoff als Hörspiel (1982) und auch als Theaterstück (1984). Die Gruppe Feuerschwanz veröffentlichte 2011 das Lied „Albrecht der Bruchpilot“. Alan Hilario komponierte 2022/23 die Messe „An Berlingers Pro-These“ (…), die am 15. April 2023 im Ulmer Münster uraufgeführt wurde.“8 Im Musical „Ozeanflieger“ von Markus Munzer-Dorn und Jens Blockwitz (Musikschule der Stadt Neu-Ulm) wird der Schneider von Ulm besungen, Hanni Krügener und Wolfram Raabe komponierten 1996 ein Lied über den Schneider und auch Liedermacher Walter Spira widmete ihm im Jubiläumsjahr 2020 ein Lied. 2021 wurde das Rockmusical „Ich bin ein Berblinger“ uraufgeführt.
Niemand hat Berblinger jedoch wohl so tiefgehend und vielschichtig erforscht und künstlerisch gewürdigt wie Edgar Reitz.
In seiner Autobiographie Filmzeit, Lebenszeit berichtet Edgar Reitz übrigens auch ausführlich unter der Überschrift „Zeit der Gauner und Spitzbuben“11 über die abenteuerliche Zusammenarbeit mit dem staatlichen tschechischen Filmstudios Barrandov, die notwendig war, um den in seiner Ausstattung sehr aufwändigen Film überhaupt finanzieren zu können.
Fußnoten
- Gesamtkosten 3,4 Mio. DM, davon allein 250 000 DM für die Forschungsarbeiten und 500 000 DM für die Flug-Dreharbeiten, vgl. ZEIT-Magazin Nr. 52 vom 22.12.1978, S. 54 [↩]
- Edgar Reitz im Filmgespräch im Rahmen der Großen Werkschau Nürnberg, 13.1.2018, in: Edgar Reitz – Die große Werkschau. Ein Handbuch, Marburg 2018, S 120 [↩][↩]
- vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Limmer [↩]
- https://www.spiegel.de/kultur/sturzflug-a-53147937-0002-0001-0000-000040606013, erschienen in Der Spiegel Nr. 51/1978 am 18.12.1978 [↩]
- ZEIT-Magazin Nr. 52 vom 22.12.1978, S. 9 [↩]
- ZEIT-Magazin Nr. 52 vom 22.12.1978, S. 54 [↩]
- Edgar Reitz in der Einführung zum Film im Rahmen der Großen Werkschau Nürnberg, 13.1.2018, in: Edgar Reitz – Die große Werkschau. Ein Handbuch, Marburg 2018, S 116 [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Ludwig_Berblinger [↩][↩][↩]
- vgl. https://www.geo.de/geolino/redewendungen/20825-rtkl-redewendung-wie-der-schneider-von-ulm-sein [↩]
- ebd., S. 375 [↩]
- ebd., S. 386 [↩]