Im Rahmen der Berlinale feierte am vergangenen Mittwoch, 19.2.25, der neue Film von Edgar Reitz, Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes, eine umjubelte und sehr berührende Premiere. Im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele gaben u. a. Henry Arnold, Marita Breuer, Christiane Schleindl, Günther Rohrbach, Margarethe von Trotta, Kultusministerin Claudia Roth, Thomas Mauch und zudem das Team und die Darsteller/innen des Filmes der Premiere einen würdigen Rahmen.
„Ich habe mich mit Leibniz schon seit Jahrzehnten beschäftigt. Das war immer meine große Verehrung und Liebe was die Geistesgeschichte Europas angeht. Ich habe immer gedacht, ’so möchte ich sein‘.“
Edgar Reitz1
Alle vier Aufführungen im Rahmen der Berlinale waren schnell ausverkauft. Im Herbst wird der Film in die Kinos kommen. Einen ersten Eindruck können Sie sich im aktuellen br-Filmtipp verschaffen. Sehr empfehlenswert ist auch das Interview mit Edgar Reitz im radio-eins Berlinale-Radio vom 19.2.2025.
Eine ausführliche Presseschau finden Sie hier.
Filmkritik
Der Film beeindruckte und berührte viele der Zuschauer/innen zutiefst. Ein sehr besonderer Film mit Humor und Tiefgang gleichzeitig, der den hohen intellektuellen Anspruch der Darstellung eines Universalgenies in spielerischer Leichtigkeit, dramaturgischer Stringenz und poetischen Bildern erfüllt. Es gelingt dem Film dabei, sich Leibniz auf menschlicher Ebene anzunähern und seine Philosophie greifbar zu machen, ohne sie abstrakt zu erhöhen oder gar zu verklären. Besonders Edgar Selge wirkt in seiner weichen, wachen, aufmerksamen und neugierigen Darstellung des Universalgenies brillant und ermöglicht dem Zuschauer so eine barrierefreie Annäherung.
In der Dramaturgie des Filmes lassen sich zwei wesentliche Teile unterscheiden. Im ersten Teil versucht sich Hofmaler Pierre-Albert Delalandre (Lars Eidinger), angereist mit bereits vorgefertigten Hintergründen, in denen nur noch das Gesicht einzufügen ist, und einem Flötenspieler, der die Malarbeiten rhythmisch begleitet, an der Aufgabe, das Portrait von Leibniz zu zeichnen, und gibt schließlich, völlig entnervt durch die Diskussionen mit Leibniz, auf. Zitat: „Ihr seid das Gewicht an den Füßen der Engel!“
Es gelingt Edgar Reitz hier, mit viel Komik, Humor und Leichtigkeit das Eis zu brechen, den Vorbehalt der vermeintlich schwer-intellektuellen Kost zu negieren und die Zuschauer/innen für den folgenden philosophischen Diskurs zu gewinnen. Dieser findet dann im zweiten Teil statt, in dem die niederländische, zunächst als Mann ausgegebene Künstlerin Aaltje Van De Meer (Aenne Schwarz) die Aufgabe übernimmt und durch ihr interessiertes, offenes Nachfragen und Einfühlen Zugang zu Leibniz findet – nicht nur auf intellektueller, sondern auch auf Herzensebene. „Sie ertastet ihn mit ihrer Seele“, beschreibt Reitz ihre Annäherung im Interview mit dem Berlinale-Radio.
En passant reflektiert der Film ohne jegliche Tendenz einer inhaltlichen Überfrachtung das umfängliche Werk Leibniz, von der von ihm entwickelten „machina arithmetica“, deren Replik offenbar für die Dreharbeiten aus dem Bonner Arithmeum entliehen werden konnte, über die Luftmatratze und das U-Boot bis hin zu den kosmischen Gesetzen, die Leibniz, der nie zwischen Physis und geistiger Welt trennte, weise und ergreifend darzustellen weiß. Mit seinem Wissen über die Wege der Seele vermag er es, die todkranke Preußenkönigin zu beruhigen und ihr das Sterben zu erleichtern – für mich in ihrer Weisheit und Liebe die berührendste Szene des Filmes.
Mit Leibniz ist Edgar Reitz ein wundervoller, überraschender, berührender und poetischer Film gelungen. Allen, die ihn ermöglicht haben, sei von Herzen gedankt. Auf der anschließenden Premierenfeier im Amerikahaus am Bahnhof Zoo herrschte eine sehr gute, ausgelassen-freudige Stimmung. Es war den Beteiligten und ihrem Freundeskreis anzumerken, dass ein ganz besonderer Geist in diesem Projekt schwingt.
Weltpremiere und Filmgespräch

Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle begrüßte die Gäste der Aufführung persönlich, freute sich über das volle Haus und führte mit einem kurzem Abriss über die Karriere von Edgar Reitz ein. Sie erwähnte insbesondere seine Berlinale-Auftritte 1971 (Geschichten vom Kübelkind), Mahlzeiten (in der Retrospektive 2022) sowie die Verleihung der Berlinale Kamera und Premiere von Filmstunde_23 im vergangenen Jahr 2024.
Der Film und anschließende Auftritt von Edgar Reitz wurden mit großem und lang anhaltenden Applaus quittiert. Reitz begrüßte das Publikum sichtlich gerührt mit den Worten: „Die Antwort auf die Frage, welchen Film man gemacht hat, kann man nicht kennen, bevor er in einem solchen Rahmen gezeigt wird. Für mich ist das die Geburtsstunde.“ Danach stellten er und Ingo Fließ das Filmteam und die Darsteller/innen vor. Bis auf die in den USA lebende Barbara Sukova waren alle erschienen. Ingo Fließ würdigte den großen Anteil von Salome Kammer, „ohne die der Film nicht möglich gewesen wäre“ (und die auch in einer kleinen Rolle zu sehen ist). Mit Bezug auf Antonia Bills Rolle in Die andere Heimat scherzte Edgar Reitz „Als wir uns fragten, wer könnte denn die Königin spielen, gab es nur eine Antwort: Das Bauernmädchen aus dem Hunsrück.“ Mit dem Statement „Es war eine wundervolle Produktion, und so viel Freude am Denken innerhalb so kurzer Zeit habe ich mein ganzes Leben über nicht erlebt.“ leitete er anschließend das Q&A ein.
Moderatorin Dorothee Wenner („Ein so philosophisches Q&A habe ich auf der Berlinale noch nicht erlebt.“) äußerste ihr anfängliches Bedenken „erdrückt zu werden von so viel Wissen, Reputation, Anspruch und Denken“ („zwei so monumental große Menschen, Reitz und Leibniz, halte ich das aus?“). Beim Sehen des Filmes habe sie dann bereits in der Eröffnungssequenz gemerkt, was für ein „raffinierter Filmemacher“ Edgar Reitz doch sei, genau mit dieser Erwartungshaltung zu spielen, indem er diese Sequenz2 so leichtfüßig und witzig inszeniert habe.
Edgar Reitz schilderte die Grundintention der Sequenz, nämlich „zu zeigen, dass es von der Kunst zur Philosophie ein weiter Weg ist“. Kern der Sequenz sei das sich anschauen, gegenseitig anblicken, das erst beim Drehen sinnlich erfassbar geworden sei. „Zwei so wunderbare Schauspieler in so eine Situation zu bringen, das kann man nicht planen, in kein Drehbuch schreiben, das kann man nur erfahren indem man es macht; das war ein großes Erlebnis für uns und das ganze Team.“

Co-Autor Gert Heidenreich gestand mit Verweis auf die neunjährige Arbeit an dem Drehbuch ein, dass er angesichts der nach den Arbeiten an Die andere Heimat erstmals von Reitz gestellten Frage „was hältst Du von Leibniz?“ innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe. „Denn eins war klar: No Love-Story at all. Und ich muss zugeben, in meinem einigermaßen umfänglichen Philosophie-Studium in München habe ich um Leibniz einen großen Bogen gemacht.“ Er habe dann auf Reitz Bitte hin angefangen zu lesen und nicht mehr aufgehört, „ich war begeistert. Wir haben dann zusammen zunächst zwei große Abenteuer-Reisefilme geschrieben, die nicht finanzierbar waren.“ Bis Reitz ihm vor etwa drei Jahren vorgeschlagen habe, den Film als Kammerspiel zu inszenieren, dessen Ausgangszene die in allen bis dahin geschriebenen Drehbuchentwürfen vorhandene Szene der Bitte der Königin Sophie Charlotte von Preußen sei, ein Porträt von Leibniz zu erhalten. „Die Absicht war immer, den Film möglichst leicht zu machen, sie alle nicht merken zu lassen, dass wir einen wesentlichen Teil der Philosophie von Leibniz mitbekommen.“ Und so sei ein Film entstanden, „in dem das Denken sichtbar wird. Einen solchen Film zu schreiben war eine Riesenherausforderung, und ihn dann auch noch so zu drehen, wie er ihn gemacht hat … Edgar, ich danke dir!“
Edgar Reitz berichtete: „Ich bin mal auf einen Satz gestoßen, den Leibniz geschrieben hat, (…) ‚das größte Glück des Menschen ist, wenn er denkt‘, (…) und wenn man sich dem mal so aussetzt, wie wir es getan haben, (…) wir waren 30 Tage lang die Versuchskaninchen von Leibniz, wir haben das Denken in seinem Sinne geübt und trainiert und dabei gemerkt, dass er Recht hat, das hat uns wirklich glücklich gemacht. Und da war die Hoffnung, dass ein bisschen davon auch ins Kino getragen werden kann, warum soll das Kino nicht ein Ort sein, wo man auch mal das Denken erlebt?“
Gert Heidenreich wies ergänzend auf den Leibniz-Satz „Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?“ hin, den er schon in seiner Studienzeit auf einem Notizzettel notiert und an der Arbeitszimmertür befestigt habe, denn „das ist eine Frage, um die man sich drücken kann, wenn man sie aber ernst nimmt, beschäftigt sie einen das ganze Leben lang“. Sie erinnere ihn an die Aussage eines verstorbenen Freundes, eines Physikers: „Der Urknall, schön und gut … aber: warum?“
Auf das Eingeständnis von Moderatorin Dorothee Wenner, sie habe vom Hofmaler Delalandre noch nie gehört, konterte Gert Heidenreich „er ist auch frei erfunden“, woraufhin sie allerdings berichtete, sie habe ihn beim Recherchieren gefunden. Edgar Reitz reagierte amüsiert: „Das habe ich schon öfter erlebt, da ist etwas in einem Film und da kommt jemand und sagt, ‚das bin doch ich‘. Man erfindet eine Figur, und findet sie schon im Lexikon. Das sagt erstens, dass wir uns nicht zu viel auf unsere Phantasie einzubilden haben, die Wirklichkeit ist immer noch größer, und zweitens, dass auch die Gedanken die Welt verändern und nicht nur umgekehrt.“

Lars Eidinger, Darsteller des besagten Delalandre, zeigte sich tief beeindruckt von der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz. Er zitierte Wittgenstein mit dem Satz „Alle Erklärung muss enden und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ „Das fand ich in der Begegnung mit dir, Edgar, so enorm, ich habe selten jemanden getroffen, der so beschreiben kann, (…) die Art wie du Filme machst ist eigentlich eine Beschreibung des Menschen, und das finde ich viel gewinnbringender als die Erklärung.“
Gert Heidenreich wandte sich entschieden gegen die Frage, ob der Film auch dem Genre „Biopic“ entspräche: „Als Edgar mir den Namen auf den Tisch legte wusste ich, er wollte weder ein Dokudrama noch ein Biopic, sondern er wollte einen Spielfilm mit der Figur Leibniz. Das war ja das Problem!“
Hauptdarsteller Edgar Selge, den Reitz im Gespräch mit dem Berlinale-Radio als den „Philosophen unter den Schauspielern“ bezeichnete, schilderte, wie er sich der Rolle genähert habe: „Bevor ich das Glück hatte, gefragt zu werden ob ich die Rolle spielen möchte, hatte ich keine Ahnung von Leibniz. Ich habe dann angefangen, zu lesen, von ihm und über ihn“, und dann habe ein sehr intensiver (oftmals nächtlicher) Mail-Austausch mit Edgar Reitz eingesetzt, „wir haben unglaublich eng miteinander kommuniziert, und das ist natürlich auch etwas, was der Leibniz in Bewegung setzt, zunächst durch Edgar Reitz, und das hat sich auf uns alle verbreitet.“
Zum Genre des „Period-Film“ berichtete Edgar Reitz: „Das war ja bei der Produktion die große Frage, wie gehen wir mit der Geschichte um? In meinen anderen Filmen hatten wir es ja fast immer mit Lebensverhältnissen zu tun, die wir erlebt haben, wo man sagen kann, ‚ich weiß aus meiner Lebenserfahrung, wie das war, wie die Menschen sich bewegen, wie sie sprechen, wie sie sich kleiden, was sie essen‘, und das wissen wir von den Menschen im 17. Jahrhundert eigentlich nicht. Die Geschichte war uns sehr fern, alles, was wir über sie erzählen ist letztendlich auch Fiktion, und bei allem was überliefert ist wissen wir, das kann nicht das ganze Leben gewesen sein, das sind nur kurze, zufällig erhaltene Ausschnitte, und das Authentische oder Wahre muss woanders gesucht werden, nämlich im Innern. So habe ich zum Beispiel bei der Kleidung, die auf den Gemälden abgebildet war, immer den Eindruck gehabt, das kann nicht wahr sein, dass die so herumgelaufen sind (…). Über solche Dinge müssen wir also wenn wir einen Film drehen nachdenken. (…) Und wie ist das mit diesen grauenhaften Allongeperücken, die damals Mode waren, konnte man die waschen, desinfizieren, was konnte man tun, wenn sich darin Ungeziefer angesammelt hatte? Deswegen kamen wir beispielsweise auf die Idee, dass Leibniz da gegen Läuse und Flöhe zu kämpfen hat, und die Kostümidee, dass er immer dieses Läppchen auf dem Kopf trägt, ist aus dieser Frage entsprungen. Und so nähert man sich langsam einem Bild an.“
Zu den (für ihn ungewohnten) Dreharbeiten im Studio erzählte Edgar Reitz: „Da entsteht so leicht kein Film. Wir haben uns gesagt, was immer wir hineinbauen, das kann uns nur furchtbar langweilig werden, weil da ist dann nichts außer dem, das wir gewollt haben. Und so etwas gibt es ja im Leben nicht. Also muss irgendetwas dort hinein, was wir nicht gewollt haben. (…) So haben wir mit der Setbildnerin wochenlang darüber nachgedacht, was dort alles sein könne, was nichts mit unserem Film zu tun hat. Das musste sein, und dann kommen wir und drehen drei Wochen, und dann ist schonmal die Hälfte der Langeweile besiegt.“
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© Thomas Hönemann, 21.2.2025
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Fußnoten
- im Interview mit br24, zu sehen und hören in der ARD-Mediathek [↩]
- Offenbar ist damit die Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Hofmaler Delalandre gemeint, nicht die einleitende Szene, in der Sophie Charlotte von Preußen, wundervoll gespielt von Antonia Bill, den Brief an ihre Mutter spricht. [↩]