Ein wesentliches Merkmal der Zweiten Heimat ist die starke Affinität zur Kunst. Edgar Reitz siedelt seine Geschichten in der künstlerischen Avantgarde im Schwabing der 60er Jahre an. Wir begegnen Komponisten und Musikern, Filmemachern, Dichtern und Schauspielern – und nicht zuletzt einer Reihe von Lebenskünstlern.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass alle Musikstücke in der Zweiten Heimat von den Darstellern, allen voran Henry Arnold, Salome Kammer und Armin Fuchs (alias Volker Schimmelpfennig), tatsächlich selbst gespielt wurden, und nicht etwa, wie in der Mehrzahl anderer Filme üblich, lediglich Bewegungen gemimt und bestenfalls noch die Finger o. ä. gedoubelt wurden. Edgar Reitz suchte beim Casting gezielt nach Schauspielern, die auch Musiker sind – ein Unterfangen, was die quantitative Auswahl in Frage kommender Darsteller nicht gerade vergrößerte, die Qualität offenbar jedoch kaum beeinträchtigte. In einem Interview berichtete Edgar Reitz z. B. davon, dass in den Katalogen der Künstleragenturen in ganz Deutschland nur eine einzige schauspielernde Cellistin bzw. cellospielende Schauspielerin verzeichnet gewesen sei: Salome Kammer.
In einem Film dieses Umfangs, der so von künstlerischen Werken durchdrungen ist, werden zwangsläufig viele Musikstücke und Texte klassischer Autoren zitiert, ja geradezu performt. Hier finden Sie eine kleine Übersicht über in DZH verwendete lyrische Werke.
Film/Szene* | Erläuterung |
1 / 105 | Bei der Abitur-Entlassfeier im Simmerner Gymnasium wird ein von Hermann komponiertes Stück aufgeführt. Der Text, „Werkleute sind wir“, stammt von Rainer Maria Rilke (1875-1926). |
2 / 240 | In der Villa Cerphal singt Clarissa Kurt Tucholskys (1890-1935) Text „„Augen in der Großstadt“. Hieraus wurde die Zeile „Zwei fremde Augen“ als Titel des Films übernommen. |
6 / 601 | Die Alex gewidmete Episode „Kennedys Kinder“ beginnt mit dem Herbstlied „Vereinsamt“ („Die Krähen schrein …“) von Friedrich Nietzsche. |
7 / 746 | „Wölfelied“ nach einem Text des iranischen Schriftstellers und Lyrikers Said => siehe unten |
11 / 1129 | Clarissa singt ein Schlaflied für Ihren Sohn Arnold („Schlaflied für Mirjam“, Text: Richard Beer-Hofmann (1866-1945)). Die Musikkomposition stammt von Salome Kammer (vgl. Edgar Reitz, Drehort Heimat, S. 238) |
12 / 1225 | In „Renates U-Boot“ singt ein Politsänger „Komm, heißer Herbst …“, einen Text von Hanns Dieter Hüsch (1925-2005), der kennzeichnend für die Aufbruchstimmung der 68er Jahre ist. |
12 / 1228 | Clarissa und ihre amerikanischen Freundinnen interpretieren einen Teil aus Arnold Schönbergs (1874-1951) „Pierrot Lunaire“, 8. Nacht (Finstre, schwarze Riesenfalter …), Originaltext von Albert Giraud , deutsch von Otto Erich Hartleben. |
13 / 1339-42 | Katrin und Herman singen gemeinsam, verbunden durch das Telefon, das Lied „Der Wanderer“ von Franz Schubert. |
13 / 1351 | In der Hexenpassion zitiert Clarissa die Gedichte „Gott hör …“ und „Von weit“ von Else Lasker Schüler (1869-1945) |
* Nummerierung entsprechend Edgar Reitz: Die Zweite Heimat. Chronik einer Jugend in 13 Büchern, München 1993
Aufgrund seiner Bedeutung für die Handlung des Filmes sei hier das „Wölfelied“ (Film 7, Szene 746) nach einem Text des iranischen Schriftstellers und Lyrikers Said zitiert, das im Film Hermann für Clarissa geschrieben hat. Clarissa singt es, auf der Gitarre begleitet von Hermann, im Fuchsbau, am Morgen nachdem die beiden sich so nah wie nie zuvor gekommen sind, sich ihre Liebe eingestanden haben, und dennoch weiterhin getrennte Wege gehen werden.
Der eine Wolf
Edgar Reitz: Die Zweite Heimat. Chronik einer Jugend in 13 Büchern, München 1993, S. 538.
lag neben dem anderen
und sie nagten sich
nicht
und sie wühlten
nicht ineinander
und sie liebten sich
nicht
und sie hatten sich
nicht
und sie waren zärtlich zueinander,
die Wölfe.
Literaturtipp:
In seinem Buch Klang – Bild – Sprache. Musikalisch-akustische Konfigurationen in der Literatur und im Film der Gegenwart widmet Ulrich Schönherr unter dem Titel Verstimmungen. Musik, Politik und Gesellschaft nach 1945 und Edgar Reitz’ Die Zweite Heimat der Musik der zweiten Heimat ein ganzes Kapitel. Darin geht er der Frage nach, wie sich die mit dem Jahr 1960 einsetzende Diversifizierung der Neuen Musik zu einem “ästhetischen Pluralismus” in Die zweite Heimat zeigt. Er spannt den Bogen von “Brutalität in Stein” bis zur “Hexenpassion”, und es gelingt ihm in überzeugender Weise, die politischen Entwicklungen der 1960 Jahre in einen Zusammenhang mit dem Streben nach einem “Abschied von Gestern”, der Abgrenzung von den Vätern, zu bringen, das sich in der Mentalität und auch künstlerischen Ästhetik der Protagonisten zeigt. Genauere Angaben zu dem Band finden Sie in der Bibliographie.