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Adieu, Jean-Luc Godard (1930-2022)

Jean-Luc Godard 1968 an der Universität Berkley

Jean-Luc Godard gehört mit Francois Truffaut, Jacques Rivette und Eric Rohmer zu den wichtigsten Regisseuren der Nouvelle Vague, die den deutschen Autorenfilmern und Verfassern des Oberhausener Manifestes in den 1960er Jahren als Vorbild diente, und gilt als einer der einflussreichsten Filmemacher überhaupt. Gestern verstarb er im schweizerischen Rolle im Alter von 91 Jahren.

Unter seinen Werken sind Meilensteine der Filmgeschichte wie Außer Atem (À bout de souffle, 1960) oder Elf Uhr nachts (Pierrot le fou, 1965). Alle seine Filme hatten einen stark experimentellen Charakter und Godard setzte sich in ihnen, besonders in den 1960er-Jahren, intensiv mit dem Kapitalismus auseinander. Für seinen ersten Langfilm, den Gangster- und Beziehungsfilm Außer Atem, benutzen Godard und Kameramann Raoul Coutard eine Handkamera. „Sie drehen nicht im Studio, sondern nur an Originalschauplätzen und oft mit Achsensprüngen. Im Schnitt montiert Godard viele kleine Zeitsprünge, die dem Werk eine ungewöhnliche Dynamik verleihen.“1

In Elf Uhr nachts flieht ein junges Paar, gespielt von Anna Karina und Jean-Paul Belmondo, aus einer bürgerlichen Wohlstandswelt, hält sich mit Diebstählen über Wasser und ist immer unterwegs. Der Film aus dem Jahr 1965 steht exemplarisch für Godards Ansatz, Komödie und Tragödie, Philosophie, Poesie und Gesellschaftskritik zu mischen.2

„Das Gegenteil von dem zu machen, was Andere erwarten: dieser Devise blieb JLG treu. Er ist kein etablierter Regisseur geworden, der seinen Stil gefunden und perfektioniert hätte. Er verblüffte mit jedem neuen Film Zuschauer wie Kritiker. Jeder seiner Filme war eine mit Spannung erwartete neue Beschäftigung mit der Phänomenologie der bewegten Bilder und Töne. Nach Coutards entfesselter Handkamera in Außer Atem das Gegenteil in Eine verheiratete Frau (Une femme mariée, 1964): Da lässt er Coutard grafische Anordnungen von Armen, Beinen, Händen, Gesichtern komponieren, die in ausgefeilten Einstellungen ein Liebespaar zeigen, eine verheiratete Frau mit ihrem Liebhaber. In Weekend (1968) vollzieht sich dann Godards Abschied vom Kino. Zu Beginn des Films gibt es noch einmal Bilder und Sequenzen, wie man sie im Kino noch nie sah, die Beichte einer Frau, verbale Pornografie, von Musik überlagert, was die Beschreibung sexueller Details nur noch fragmentarisch hörbar macht. Und das längste Travelling der Filmgeschichte (das jedenfalls war Godards Ambition), an einem endlosen Autostau entlang mit Unfällen, Toten, brennenden Wracks, aggressiven Menschen. Krieg auf den Straßen.

Von Die Verachtung (Le Mépris, 1963), über Elf Uhr nachts (1965) zu Weekend (1968) befindet man sich mit Godard auf formal-ästhetisch höchstem Niveau auf dem Weg von der bürgerlichen Zivilisation in die Barbarei. Im Mai 1968 katapultierte sich Godard dann aus der Filmszene hinaus und organisierte sich in der Group Dziga Vertov mit dem Anspruch, nicht politische Filme, sondern Filme politisch zu machen. Aus „au contraire“ wird politischer Radikalismus, extreme, spröde, politisch radikal argumentierende Produktionen. Aus „au contraire“ wird aber auch Rette sich, wer kann (das Leben) (Sauve qui peut [la vie]), der Titel eines seiner Filme aus dem Jahr 1980, und vielleicht auch ein neues Leitmotiv.

Ohne Wahrheit leben in einer gewaltsamen, verworrenen Welt. Um dieses Problem kreisen Godards späte Filme. Er litt am Zustand der Welt. Darüber Filme zu machen, war seine Form des Überlebens. Rette sich, wer kann. Kinobilder sind in allen Filmen von Godard anwesend. In Adieu au langage (2014) laufen auf großen Flatscreens ständig Filme; man sieht (in 3D) Menschen am Genfer See, die reden, streiten, lieben, sich quälen und sich fragen: um was geht es? Zwischen all den Bildern läuft Godards Hund durch den Film. Er ist das fröhlichste Wesen in dieser Gesellschaft der Zweifler, Kulturpessimisten und Verlorenen.“3


„Aber sie haben die Filme nicht gesehen.“

In Erinnerung an Jean-Luc Godard hat arte mehrere seiner Filme sowie zahlreiche informative Magazinbeiträge zu filmischen Aspekten in die Mediathek gestellt. Darunter auch eine Dokumentation, in der er dem französischen Kulturkritker Bernard Pivot auf dessen Aussage „Wenn Sie morgen sterben würden, würde die internationale Presse gleich melden, dass einer der größten Filmemacher des 20. Jahrhunderts gestorben ist“ entgegnet: „Aber sie haben die Filme nicht gesehen.“ Hoffen wir, dass er in diesem Punkt nicht Recht behalten wird.

Bei Studiocanal sind unter dem Label arthaus zahlreiche seiner Filme für das Heimkino erschienen.

Nachrufe auf Jean-Luc Godard (eine Auswahl)



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Abbildungsnachweis

  • Jean-Luc Godard at Berkeley 1968, Foto von Gary Stevens © CC BY 2.0
  • „Aber sie haben die Filme nicht gesehen.“ © arte
  • Szenebilder aus Godard-Filmen © Studiocanal
Fußnoten
  1. https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tod-von-jean-luc-godard-100.html []
  2. ebd. []
  3. https://www.filmdienst.de/artikel/56742/nachruf-zum-tod-von-jean-luc-godard []