Filmstudio Glückauf, Essen, 1. März 2020
Regisseurin Anna Hepp, Jahrgang 1977, hatte eingeladen, um ihren ersten Langfilm zu präsentieren, und knapp 200 Filminteressierte waren der Einladung in das somit gut gefüllte Filmstudio Glückauf gefolgt. Zudem war der Großteil ihres Teams erschienen, und auch Edgar Reitz war eigens am Morgen mit dem Zug aus München angereist. Der erste Kontakt der beiden geschah 2015 bei einer Buchpräsentation an der Kunsthochschule für Medien (KHM) Köln. Anna Hepp, deren absoluter Lieblingsfilm Reitzs Erstlingswerk Mahlzeiten ist, sprach Edgar Reitz im Rahmen einer Signierstunde an und fragte, ob sie eine Dokumentation über ihn drehen könne. Nun, fast 5 Jahre später, kommt der Film in die deutschen Kinos.
Überraschend war für mich seine eigenwillige, unkonventionelle Machart: Nichts in 800 mal einsam erscheint inszeniert, gespielt, hingestellt, aufpoliert, wiederholt oder aufgesagt. Das Team nutzte die drei Drehtage mit Edgar Reitz, um authentisches Material zu sammeln, mit dem Interesse, sowohl dem Subjekt des Films, Edgar Reitz, als auch den eigenen künstlerisch-handwerklichen Vorstellungen gerecht zu werden. Mal verharrt die Kamera lange auf den Händen von Reitz oder Hepp, nicht selten ragt das Mikrophon ins Bild, die Kamera durchstreift suchend die Szene, vereinzelt entgleitet die Schärfe oder die Bilder verwackeln. Auch Gesprächspausen erhalten ihren Raum und somit ihre Berechtigung, Fragen kommen mitunter aus dem Off vom Kameramann, und man hat das Gefühl, das Team ist Teil des Ganzen und hat sich bei sich bietenden Gelegenheiten eingebracht und dabei die Kamera „einfach mal laufen lassen“, sei es beim Mittagessen oder beim Ortswechsel, in Zeiten der digitalen Filmtechnik kein Materialproblem mehr. So entstanden auch Bilder, die Hepp zu Intermezzi verarbeitet hat, teils unterlegt mit satten Techno-Beats, zu denen wir das Team und Reitz beispielsweise durch die verspiegelten Säulen im Foyer der Lichtburg rochieren sehen.
Anna Hepp erläuterte zur Machart des Filmes, dass es ihr wichtig gewesen sei, ein Gespräch von ganz authentischer Natur zu dokumentieren. Sie habe daher auch keine Interviewfragen vorbereitet, sondern Raum für alles gegeben, was sich im Gespräch mit Reitz zeigen mochte. In den drei Drehtagen habe man sich viel Freiraum für Improvisation gelassen, auch für Dilettantisches, geboren aus der damit verbundenen Chance, „etwas Besonderes zu bekommen“, „alles andere kann ich ja inszenieren und perfekt abfilmen, das haben wir ja gelernt, aber darum ging es mir gerade nicht.“ Die Rhythmisierung des Filmes sei im Wesentlichen in der Montage geschehen, und auch hier seien gerade nicht perfekte Aufnahmen, z. B. Wackler oder Belichtungsfehler, nicht einfach unter den Schneidetisch gefallen, „ich habe damit keine Probleme“, so Hepp, denn „da sieht man das Filmemachen“.
Die Nachbearbeitung und Gestaltung des Rohmaterials, für die sich das Team eineinhalb Jahre Zeit nahm, erinnert nicht zufällig an so manchen Stellen an Stilmittel aus Reitzschen Produktionen. Den Wechsel zwischen schwarzweiß und Farbe kennen wir aus der HEIMAT-Trilogie, und das experimentelle Spiel mit aneinander geschleiften oder rückwärts laufenden Bild- oder Tonfolgen, Zeitraffern und Zeitlupen aus den frühen Kurzfilmen wie Geschwindigkeit, Susanne tanzt oder Kommunikation.
Edgar Reitz berichtete, wie unwohl („nie glücklich“) er sich vor der Kamera gefühlt habe, sein Platz sei dahinter und bei seinem Team, und so sei er oftmals während der Aufnahmen in Gedanken mit filmtechnischen Fragen von Licht, Ton und Schnitt beschäftigt gewesen. Die ungewohnte Rolle im Focus der Kamera sei ihm „ganz besonders fremd“, seine Art sei es eigentlich, hinter das Werk zurückzutreten, es gehe ihm nie um Eitelkeiten und Selbstdarstellung, sondern ausschließlich um das Werk: „Ich möchte nicht zu denen gehören, die sich zwischen den Zuschauer und das Werk stellen.“
Der Film lebt von einer authentischen, auf Vertrauen, Respekt und Empathie beruhenden Begegnung zweier Menschen verschiedener Generationen, die eines ganz wesentlich verbindet: ihre große Leidenschaft für den Film. „Leidenschaft ist eine wunderbare Brücke, und absolut keine Generationenfrage.“ (E. R.) Anna Hepp bedankte sich zu Beginn der Gesprächsrunde bei Reitz für sein Vertrauen. Er sei „einfach so gekommen“, ohne in das, was ihn erwarten würde, eingeweiht zu sein. Hepp erhoffe sich somit mehr Nähe und eine größere Chance auf besondere Momente. „Wir wollten sein Herz gewinnen“, und dafür hatte das Team auch verschiedene kleine Dinge vorbereitetet, beispielsweise die 150 im Kinosaal auf die Sitze montierten Porträts der Köpfe von Charakteren aus Reitzs Filmen. Für mich einer der berührendsten Momente des Filmes, als Edgar Reitz völlig allein durch den Kinosaal geht und mit den Bildern spricht. Reitz bezeichnete diese Situation als eine „gelungene Überraschung“, aber auch als „einen Moment, in dem man auseinandergerissen wird“, denn einerseits sei er ja der Autor und somit Urheber der Figuren, andererseits „sitzen nun alle da, so als ob gefragt wird‚ stehst du dazu?‘“
Hauptdrehort des Filmes ist die Lichtburg in Essen, ein Kino, das in den 1920er Jahren entstand, in der Blütezeit des Kinos als kulturelles Objekt. Nicht nur für Anna Hepp, die in Marl geboren wurde und lange Zeit in Essen lebte, eines der schönsten Kinos überhaupt – und nebenbei mit 1250 Plätzen der zurzeit größte Kinosaal in Deutschland. „In einem solchen Raum zu sprechen hat die Geister in mir geweckt“, sagte Edgar Reitz und verwies darauf, dass der Saal nicht nur an die große Zeit des Kinos erinnere, sondern auch Fragen an die Zukunft stelle, wohin geht es mit dem Kino und der Filmkunst?
Reitz ging ausführlich auf den Wandel des Filmkonsums ein: In München gebe es inzwischen kein Premierenkino mehr, und auch das Fernsehen sei in eine Dauerkrise geraten. Er verdeutlichte, dass auch das Kino ein „Kind der Technik“ sei, und somit jede Innovation auch immer wieder zu Krisen geführt habe, selbst die Erfindung des Tonfilms habe Erschütterungen verursacht, danach der Siegeszug des Fernsehens, des „Pantoffelkinos“, und schließlich die heutige Krise durch das Internet und seine Streaming-Portale, die eine ganz neue Form des Umgangs mit Film hervorgebracht haben. “Uns Filmschaffenden wird der Boden unter den Füßen weggezogen“, aber „das Kinoerlebnis ist durch nichts zu ersetzen“, schon gar nicht durch das Betrachten von Filmen auf Computern oder gar Smartphones.
Die Krise des Kinos bewirkt unweigerlich auch eine Krise der Filmschaffenden: „In so einer Situation so einen Film zu machen lässt mich am deutlichsten spüren, dass derzeit sehr viel Phantasie gefragt ist“, sagte Edgar Reitz. Anna Hepp beklagte das derzeitige Überangebot an Filmhochschulen und Studenten. Reitz pflichtete ihr bei: „Alle wollen Filme machen! In Deutschland entstehen jedes Jahr über 100 Filme, die nie ins Kino oder Fernsehen kommen. Es ist ein Friedhof der Hoffnungen. Unglaublich, was die junge Generation mit jedem Film an Phantasie zu Grabe trägt.“
Nachdenklich stimmt die Sequenz, in der Reitz berichtet, wie nach seinem Empfinden die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen im Film das eigene Leben auslösche. „Wenn ich all meine Freunde verfilmt habe, habe ich keine mehr.“, denn „die emotionale Tiefe, die sie mal hatte, hat [eine Beziehung] nach dem Film nicht mehr. Dafür hat sie dann der Film. Und es können nachher tausende Menschen berührt sein, wenn sie den Film sehen.“
Seine innere Ruhe verliert Reitz in 800 mal einsam nur einmal, nämlich als er über die entwürdigenden Bedingungen im Zusammenhang mit der Finanzierung von HEIMAT 3 durch die Fernsehanstalten berichtet. Ein Stachel, der (verständlicherweise) offenbar immer noch tief in seinem Herzen sitzt, vor allem wohl, weil er nie so drastische Eingriffe in seine künstlerische Kreativität und Freiheit erdulden musste. Bereits der (von den Redakteuren der finanzierenden Sender diktierte) Titel HEIMAT 3 sei hochgradig missverständlich und somit unpassend. Dieses dunkle Kapitel wird in der Dokumentation nicht mit dem großen Erfolg von Die andere Heimat, der als bester Film des Jahres 2014 mit dem deutschen Filmpreis in Gold und zudem für die beste Regie und das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, kontrastiert. So bleibt 800 mal einsam ein ehrlicher, authentischer und unpathetischer Film, ein flammendes fundiertes Plädoyer für die Freiheit der Kunst und die Zukunft des Films und Kinos. Zudem ein zeitloser Film, der zwei Generationen von Filmemachern vereint, die trotz völlig unterschiedlicher Biographien gemeinsam genau für diese Ziele kämpfen. Und schließlich ein filmhistorisches Dokument und gleichzeitig eine von Hochachtung geprägte Hommage an einen wundervollen, einzigartigen Künstler, der sich immer treu gewesen ist und unabhängig von Interessen im Außen für seine Ideale gekämpft hat.
Im kommenden Monat wird Edgar Reitz in Berlin mit dem Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises für seine herausragenden Verdienste um den deutschen Film ausgezeichnet. Auch wenn diese hohe Auszeichnung mehr als verdient ist und als wundervolle Würdigung seiner Arbeit, seiner unabhängigen Grundhaltung und seines steten selbstlosen Engagements gewertet werden darf, Reitz ist wie bereits erwähnt nie der Mensch gewesen, der den Erfolg in der großen Öffentlichkeit gesucht hat, ihm ging es immer um das Werk, die Kunst. Dies verdeutlicht auch die Geschichte, die er gegen Ende der Gesprächsrunde erzählte: In Augsburg wurde vor etwa 10 Jahren Die Zweite Heimat wiederaufgeführt, 26 Stunden Film in vier Tagen. Die Veranstaltung war mit großem Aufwand langfristig beworben worden, doch als er zur Eröffnung in den Kinosaal kam, saß dort nur ein einziger Mensch. Reitz habe sich zu ihm gesetzt, ihn angesprochen und erfahren, dass er aus Australien stamme und extra seine Europareise so geplant habe, dass er den Film in Augsburg sehen könne. Er blieb vier Tage in Augsburg und sah sich allein den kompletten Film an. „Das“, so Reitz, „empfinde ich als meinen größten Erfolg.“
Diese Geschichte erzählt der 87jährige zwar mit Augenzwinkern, aber ohne Ironie und sicher nicht als Anekdote. Es ist ein durchaus ehrliches, authentisches Statement, das viel über den Menschen Edgar Reitz aussagt. Denn womöglich ist es tatsächlich das Höchste, was man im Leben erreichen kann: Sich unabhängig zu machen vom Urteil anderer, treu bei sich zu sein und die Dinge zu tun, die man von Herzen gerne tun möchte und für wahr und wertvoll hält. Edgar Reitz ist angekommen, und der Film von Anna Hepp illustriert dies in berührender und überzeugender Weise. Danke für dieses Geschenk.
Thomas Hönemann, 6.3.2020
Linksammlung zu 800 mal einsam
Trailer: https://www.dejavu-film.de/media/800.mp4
Kinotermine: http://www.dejavu-film.de/index.php?article_id=89
Website von Anna Hepp: https://www.annahepp.com/portfolio/filmarbeit-edgar-reitz
Begründung der FBW zur Verleihung des Prädikats „wertvoll“: https://www.fbw-filmbewertung.com/film/800_mal_einsam_ein_tag_mit_dem_filmemacher_edgar_reitz