von Eva Maria Schneider
„Hunsrücker Stickelscher“ nennt man kleine Geschichten, die garantiert nicht gelogen sind (so Edgar Reitz in den Geschichten aus den Hunsrückdörfern). Dies gilt – sieht man von dem ironischen Unterton der Aussage ab – in der Tat für die folgenden Erlebnisse von den Dreharbeiten aus der Feder von Eva Maria Schneider.
Eva Maria Schneider, Amateurschauspielerin aus Kirchberg im Hunsrück, spielte in HEIMAT die Marie-Goot, die Schwester von Katharina und damit die Großtante der Familie Simon. Sie begleitete die Entstehung von HEIMAT 3 beratend. Für die Tourist-Info Simmern war sie lange Zeit als Begleiterin bei Bustouren zu den Drehorten von HEIMAT 1 und 3 aktiv. Eva war seit den Dreharbeiten von HEIMAT eine enge Vertraute von Edgar Reitz, zu der er immer wieder den Kontakt suchte und deren Rat er sehr schätzte. Ich durfte Eva im Oktober 2003 bei einer Ihrer Bustouren zu den Drehorten kennen lernen, und bis zu Ihrem Tod Anfang 2019 verband uns eine innige Freundschaft. Sie war ein echtes Hunsrücker Original, hatte viel Freude daran, Geschichten und Anekdoten im Hunsrücker Platt zum besten zu geben, was sie oft auch im Rahmen kleinerer Arrangements mit Mitgliedern ihrer Theatergruppe Dumnissus tat. Mögen die Filme und die hier verewigten Anekdoten, aber vor allem das was wir persönlich mit ihr erleben durften dazu beitragen, dass sie unvergessen bleibt.
Lesen Sie hier meinen Nachruf auf Eva Maria Schneider.
Die Sache mit den Hunden.
Als Paul Simon im Wald die Frauenleiche findet kommt die Kriminalpolizei nach Schabbach um die Männer zu vernehmen, was den Beamten nicht gerade leicht gemacht wird. Bei der Vernehmung des Korbmachers geht es denn auch hauptsächlich um die Hunde. Der Korbmacher stand mit seinen Hunden hinter dem Zaun die Kriminalbeamten mit ihren Tieren auf der Straße. Nun sollten die Hunde von beiden Seiten am Zaun hochspringen und sich wütend anbellen. So hatte es jedenfalls die Regie vorgesehen, aber die Hunde, die aus dem gleichen Zwinger stammten und sich gut verstanden, sahen die Notwendigkeit nicht ein und blieben ruhig. Also schwenkte man ein Stück Wurst an einer Angel über dem Zaun und die Hunde sprangen dann nach der Wurst. Dabei entspann sich der folgende Dialog:
Kripo: „Unsere Hunde sprechen auf die Hunde des Gegners an.“
Korbmacher: „Mei Hunn sinn ämfache Ziehhunn un die sinn aach annere Gerüsche gewiehnt. Wo honn sie ihr Hunn dann unnergebraacht, die riesche jo, unn dat riesche mei Hunn dat die riesche.“
Kripo: „Das weise ich schärfstens zurück, unsere Hunde riechen nicht.“
Korbmacher: „Unn doch riesche se, dat riescht ma doch dat die riesche.“
Und dann setzt er sich an seine Arbeit und macht weiter.
Die Sache mit den Heidelbeeren.
In Teil 2 geht die Dorfgemeinschaft Heidelbeeren pflücken, aber in diesem Jahr gab es keine weil es in die Blüte gefroren hatte. So fuhr unser Ausstatter Franz Bauer nach Frankfurt auf den Großmarkt und kaufte Heidelbeeren und schwarze Johannisbeeren. Die Johannisbeeren wurden in mühsamer Kleinarbeit in die Heidelbeerbüsche gehängt und die Heidelbeeren auf den Boden gestreut, dann das Ganze noch mit frischem Wasser Übergossen, weil der Kameramann Gernot Roll immer sagte: „Ein guter Film besteht aus tausend Kleinigkeiten die kein Mensch sieht.“ Und dann stand einer reichen Heidelbeerernte nichts mehr im Weg.
Meine „Filmbrille“.
Der erste Drehtag mit meiner Filmbrille, durch die ich nur sehr schlecht sehen konnte, fand im Wald statt. Ich sollte mit der Familie Reisig sammeln. Zuerst habe ich „sehend“, also ohne Brille geprobt, dann das Ganze mit Brille versucht und als dann gedreht wurde habe ich im „Blindflug“ einen dicken Ast übersehen und direkt vor der Kamera eine heftige Bruchlandung hingelegt. Gott sei Dank war der Schreck größer als die Verletzung und wir konnten weitermachen. Beim nächsten Drehtag in der Küche war dann der Gernot sehr unzufrieden mit meiner Leistung, er meinte: „Marie-Goot, du stolperst durch die Gegend wie Falschgeld, was ist denn los?“ Ich habe ihm daraufhin meine Brille aufgesetzt und damit lief er auch nicht „eleganter“ als ich. Aber Not macht erfinderisch und so hatte ich bald gelernt wie ich den Kopf drehen musste damit man nicht sah dass ich „über die Brille“ schaute, und damit war mal wieder ein Problem gelöst.
Die „Chaos-Suppe“.
Nikos Mamangakis, der griechische Komponist der Filmmusik, war öfter mal als stiller Beobachter bei den Dreharbeiten dabei. Er wollte die Stimmung miterleben und die besondere Atmosphäre aufnehmen. So war es auch bei dem eben erwähnten Drehtag im Wald. Das Mittagessen wurde angeliefert und wir saßen nebeneinander auf einem dicken Baumstamm und erfreuten uns an der herrlichen Gemüsesuppe. Mamangakis fragte mich wie die Suppe bei uns heißt und erzählte, dass in seiner Sprache das Durcheinander Chaos heißt und die Suppe deshalb eine „Chaos-Suppe“ sei. Wenn ich heute eine „Chaos-Suppe“ koche denke ich mit Freude an die Dreharbeiten und die fröhliche und angeregte Unterhaltung mit Nikos Mamangakis.
Die Ferntrauung, das Foto und die Feder.
In Teil 6 feierten wir die Ferntraung von Anton und Martha und natürlich musste Eduard fotografieren und das dauerte. Es war kalt, der nasse Schnee hatte die Schuhe durchweicht und wir standen ewig lange auf der Treppe des Wiegandhauses. Lucie, die vor mir stand, drehte dauernd den Kopf um nach rechts und links zu reden und dabei wischte die Fasanenfeder auf ihrem fi ständig durch mein Gesicht. Um ein wenig Kurzweil zu haben machte ich meine Faxen und spielte mit der Feder. Plötzlich sah ich, dass der Kameramann das mitbekommen hatte und Edgar darauf aufmerksam machte und als der lachend nickte war mir klar das darf drin bleiben. Lucie hatte davon nichts gemerkt und später wurde ich öfter auf diese Szene angesprochen. In Teil 8, als Paul aus Amerika zurück kommt und von Lucie in der Küche begrüßt wird wiederholt sich das Ganze nochmal.
Nachdem das Hochzeitsfoto endlich im Kasten war ging es in Wiegands „gute Stube“. Dort war der Tisch gedeckt für die Hochzeitsfeier und es wurde eine herrlich duftende und vor allem heiße Suppe aufgetragen die wir allerdings nicht essen durften. denn Requisitenessen ist eine Todsünde.
Da das Wiegandhaus ja nur Kulisse war bestand auch das Wohnzimmer nur aus einem Bretterverschlag, den auch die aufgestellten Campingheizgeräte nicht warm bekamen. Also haben wir nach den Stunden auf der Treppe nun im Wohnzimmer tapfer weiter gefroren, nur ganz leise mit den Zähnen geklappert und dabei Behaglichkeit gemimt.
Zur Ferntrauung gehörte auch die Sache mit dem Flugzeug und den Blumen. Im Film fliegt Ernst übers Dorf und wirft für die Braut einen Strauß mit roten Nelken ab. Als wir das drehten bekam der Pilot, des schlechten Wetters wegen, keine Starterlaubnis, also musste es ohne Flugzeug gehen. Der Regisseur erklärte uns die Situation und dann hieß es „Action“. Wir stoben auseinander wie ein Hühnerhaufen in den der Bussard stößt. Jeder sah das nicht vorhandene Flugzeug aus einer anderen Richtung kommen und in eine andere Richtung abfliegen und es hat eine ganze Menge Versuche gebraucht bis wir uns einig waren. Mit den roten Nelken klappte es sofort, denn die fielen punktgenau von der hohen Leiter der Simmerner Feuerwehr. Als wenige Tage später das Flugzeug wirklich übers Dorf flog war ich nicht dabei, denn ich hatte mich bei den Dreharbeiten so erkältet, dass ich mit Fieber im Bett lag. Der krönende Abschluss der Hochzeitsfeier war das Violinkonzert im Salon der „Lucie – Villa“. Das ehrwürdige, alte „Doktorhaus“ in Büchenbeuren empfing uns mit Wärme und Behaglichkeit, und man kam ganz von selbst in die richtige Stimmung und konnte den „Dreh“ genießen.
Die Christmette.
Am 1. Advent 1981 wurde in der Klosterkirche in Ravengiersburg, auch bekannt als „Hunsrückdom“ die Christmette gedreht. Da es eine Mitternachtsmesse sein sollte waren vorher alle Kirchenfenster mit schwarzem Molton zugehängt. Auf der Empore sang der Chor „Stille Nacht“ und nach der Zeile „Gottes Sohn, oh wie lacht“ musste Lucie laut, schrill und schräg mitsingen „Lieb aus deinem göttlichen Mund“, wobei der „Supernazi“ Wilfried Wiegand, von der Heiligkeit der Stunde übermannt, singend auf die Knie fiel. Das Ganze musste so oft wiederholt werden, dass der Chor bald nicht mehr wusste, wie „Stille Nacht“ gesungen wurde. Als wir dann aus der Kirche kamen hatte die Regie Schnee vorgesehen und die Feuerwehr hatte einen Schaumteppich gelegt, der auch für die Notlandung eines Jumbo – Jets ausgereicht hätte. So standen wir dann nicht nur bis an die Knie im Löschschaum sondern auch wenig später im Dunkeln, denn die vielen Scheinwerfer hatten die Leitungen überlastet. Nachdem der Schaden behoben war konnte weitergemacht werden, und so ging gegen 23 Uhr ein langer aber schöner und ereignisreicher Drehtag zu Ende.
Wäsche bleichen.
Wäsche bleichen ist eine Arbeit für brüllendheiße Sommertage, an denen die Sonne gnadenlos vom Himmel brennt. Die gewaschene Wäsche wird nass auf einer Wiese ausgebreitet und den ganzen Tag ständig gegossen, damit die Sonneneinstrahlung wirken kann. Nun war die „Marie – Goot“ noch nie eine der Schnellsten, und so bleichte sie ihre Wäsche an einem trüben, kalten Oktobertag, als die Sonne hinter den dicken Wolken nicht mal zu ahnen war. Es war so kalt, dass Edgar Reitz und Gernot Roll, nachdem am Set alles eingerichtet war, nochmal nach Hause fuhren um ihre Daunenjacken zu holen. Alle im Team waren gut warm angezogen und auch Eduard, der mich bei meiner Tätigkeit fotografierte, trug einen warmen Mantel nebst Hut. Nur die „Marie – Goot“ durfte im dünnen Rock und kurzärmeligen Leinenhemd hemmungslos mit Wasser plantschen. Das war der erste, aber noch lange nicht der letzte Drehtag an dem ich sehr gefroren habe.
Der letzte Drehtag.
Die beiden letzten Drehtage waren eigentlich „Drehnächte“. Während draußen die Dorfkirmes tobte hatten sich die bereits Verstorbenen im alten Dorfsaal versammelt. Es war sehr still bei uns und vor allem sehr kalt. Draußen gab es schon Minusgrade und wir waren zwei Nächte lang barfuß. Die einzige Licht- und Wärmequelle war eine 20000 Wattbirne mitten im Saal. Als dann Maria, die im Alter von 82 Jahren verstorben war, plötzlich als ganz junge Frau in unserer Mitte stand und jeden mit Namen nannte, da überkam einen schon ein ganz eigenartiges Gefühl. Auch „Glasisch-Karl“, der tot neben dem Saal lag, stand in jugendlicher Kraft zwischen uns und war geblendet von dem gleißenden Licht. Die letzte Klappe fiel am 31. Oktober 1982 um 5:12 Uhr in der Frühe, und als Edgar nach 18 Monaten „Drehschluss“ sagte war von Euphorie nichts zu spüren, da war nur Bedauern und Wehmut. Nun gab es keine Drehtage mehr auf die man sich freuen konnte, keine zufälligen Begegnungen, keine gemeinsamen Erlebnisse und fröhliche Gespräche. Es ging zum letzten mal in die Maske, zum letzten mal in die Garderobe und zum letzten mal mit dem Produktionsbus nach Hause. Selbst die Aussicht auf ein heißes Bad und die Möglichkeit, nach 18 Monaten endlich die furchtbare Dauerwelle gegen den geliebten Kurzhaarschnitt zu tauschen war da kein Trost. Am Abend des 31. Oktober 82 waren wir alle nach Woppenroth zum Filmball in den alten Dorfsaal (den es leider nicht mehr gibt) eingeladen. Es waren etwa 200 Leute mehr im Saal als eigentlich hinein passten und es war eine Riesenstimmung, die um Mitternacht ihren Höhepunkt erreichte, denn da durften wir unserem geschätzten Edgar Reitz zum Geburtstag gratulieren, er war 50 Jahre alt geworden!!!
© Eva Maria Schneider, 30.11.2004