Edgar Reitz wurde am 1. November 1932 in der kleinen Stadt Morbach im Hunsrück geboren. Sein Vater Robert betrieb nach seiner Ausbildung in Bernkastel zunächst in Simmern, dann in Morbach ein Uhrmachergeschäft, seine Mutter Maria war als Modistin tätig. Sein Großvater Johann Reitz war Schmied in Morbach-Hundheim. Edgar Reitz wuchs mit seinen zwei jüngeren Geschwistern auf, seiner Schwester Heli und Bruder Guido, der später Handwerk und Geschäft vom Vater übernahm.
Bereits während seiner Schulzeit am Herzog-Johann-Gymnasium in Simmern beginnt Reitz unter der Obhut seines Deutschlehrers Karl Windhäuser (der uns in den Geschichten aus den Hunsrückdörfern als ‚Stickelscher-Erzähler‘ und in Die Reise nach Wien begegnet) mit dem Theaterspiel und der Inszenierung von Theaterstücken. Nach dem Abitur 1952 geht er auf Zuraten von Windhäuser nach München, um an der Universität Germanistik, Publizistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte zu studieren. Bereits zu dieser Zeit veröffentlicht er gelegentlich Gedichte und Erzählungen, und ist Mitherausgeber einer literarischen Zeitschrift. Er beschäftigt sich mit der Avantgarde in Musik, Kunst, Literatur und Film. 1953 gehört er zu den Gründern des „Studentischen Zimmertheaters“, aus dem 1954 die Studiobühne an der Universität München hervorgeht. Doch am meisten fasziniert ihn das Kino und dessen Technik. Er wird Mitglied eines Filmseminars, in dem Filmklassiker analysiert und diskutiert werden. Wo man Anfang der sechziger Jahre, so Peter W. Jansen, woanders (in Frankreich, in Polen) eine Filmschule besucht, lernt Reitz das Filmemachen beim Filmemachen. Nach ersten Filmversuchen ab 1953 verschafft er sich als Kamera-, Schnitt- und Produktionsassistent Zugänge zur professionellen Filmwelt. Erste eigene Kurzfilme entstehen ab 1958. 1962 gehört er zur Oberhausener Gruppe um Alexander Kluge, die anlässlich der Kurzfilmtage mit dem Oberhausener Manifest erklärt: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ 1962-1965 ist Reitz als Leiter der Abteilung für Entwicklung und Experiment der Münchner „Insel-Film“ tätig. Er gründet 1963 zusammen mit Alexander Kluge und anderen Jungregisseuren die erste Filmschule der Bundesrepublik, das Institut für Filmgestaltung an der HfG Ulm, an dem er bis zur Schließung 1968 Regie und Kameratheorie lehrt.
1965/66 wirkt Reitz als Kameramann bei Alexander Kluges Abschied von Gestern mit, 1966 dann sein erster eigener Spielfilm Mahlzeiten, der 1967 bei den Filmfestspielen von Venedig als bester Debutfilm ausgezeichnet wird. Die Kamera führt damals schon Thomas Mauch, der 36 Jahre später auch die ersten vier Filme von HEIMAT 3 dreht. Beide genannten Arbeiten gehören zu den Filmen, die den Begriff „Junger deutscher Film“ maßgeblich prägen. Im Mai/Juni 1969 erteilt Reitz am Münchner Luisen-Gymnasium Unterricht in Filmtheorie und -praxis, der Film „Filmstunde“ dokumentiert dieses Projekt. 1971 initiiert er das Projekt „Kneipenkino“, in dem die Besucher anhand einer „Speisekarte“ das Programm aus 23 Kübelkind-Geschichten selbst zusammen stellen können.
1971 gründet Edgar Reitz in München die Edgar Reitz Filmproduktions GmbH (kurz: ERFilm), die seitdem eigene Projekte, aber auch Filme namhafter anderer Regisseure realisiert. So folgen in den 70er und 80er Jahren zahlreiche Produktionen im Bereich des Dokumentarfilms, Spielfilms und Fernsehspiels, belohnt mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen. Gleichzeitig veröffentlicht Edgar Reitz zahlreiche Bücher und Artikel über Filmtheorie und Filmästhetik, aber auch Erzählungen, Essays, Lyrik und literarische Fassungen seiner Filme.
Angesichts des Misserfolgs mit seinem bis dahin kostspieligsten Film, Der Schneider von Ulm, wendet sich Reitz 1978 vom Spielfilm und seinen staatlich geförderten Normen ab. Er zieht sich auf die Insel Sylt zurück, wo unter seinem (negativen) Eindruck der amerikanischen Serie Holocaust die Idee für sein bisher erfolgreichstes Projekt HEIMAT – Eine deutsche Chronik reift. Mit HEIMAT kehrt Reitz erneut (wie bereits mit Die Reise nach Wien (1973)) in seine eigene Heimat, den Hunsrück, zurück, und dreht im Vorfeld der Realisation von HEIMAT den Dokumentarfilm Geschichten aus den Hunsrückdörfern, der das Leben der Menschen in dieser Region auf unnachahmliche Weise beschreibt. Gleich im Anschluss an HEIMAT beginnt Reitz 1984 mit der Arbeit an DIE ZWEITE HEIMAT – Chronik einer Jugend, ein Film, der international sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum noch mehr Beachtung findet als HEIMAT, aber dennoch in Deutschland nicht deren Popularitätsgrad erreichen kann.
1995 gehört Edgar Reitz zu den Mitbegründern des „Europäischen Instituts des Kinofilms (EIKK)“ in Karlsruhe, und wird zum assoziierten Professor für Film an die Staatliche Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe berufen.
HEIMAT 3 – Chronik einer Zeitenwende entsteht, belastet durch gravierende Eingriffe der öffentlich-rechtlichen Finanziers in Reitz‘ künstlerische Freiheit, in den Jahren 2002-2004. In HEIMAT Fragmente – Die Frauen fasst Edgar Reitz 2006 bisher unveröffentlichte Szenen aus allen drei Teilen der Trilogie zu einem philosophischen Diskurs über das Erinnern zusammen.
2012 entsteht der Kinofilm Die andere Heimat, der die Auswanderung von Hunsrücker Bürgern nach Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert. Der Film ist seinem 2008 verstorbenen Bruder Guido gewidmet, der, kaum von Familie und Öffentlichkeit bemerkt, in Fachkreisen als hoch anerkannter Sprachwissenschaftler galt, der mehr als 50 Sprachen studiert hatte und sogar einige indigene Sprachen sehr gut sprach. Guido hatte ein gutes Jahr vor seinem Tod einen Fall aus der eigenen Familie in Hirschfeld recherchiert, in dem sich die beiden Söhne des Dorfschmieds Reitz 1843 darüber zerstritten hatten, wer nach Brasilien auswandern dürfe und wer zu Hause den väterlichen Betrieb fortzuführen habe. 2014 wird Die andere Heimat mit der Lola als bester Film des Jahres ausgezeichnet.
Im Februar 2015 wird unter dem Titel „HEIMAT remastered“ in Mainz die aufwendig digital restaurierte Fassung von HEIMAT uraufgeführt, im Mai erscheint daraus hervorgehend ein „Director’s Cut“, der als Kinofassung die einst elf Episoden zu sieben abendfüllenden Filmen vereint.
Im Rahmen der großen Edgar Reitz Werkschau Anfang 2018 in Nürnberg erfahren die frisch restaurierten „Geschichten vom Kübelkind“ eine Renaissance. Wie Anfang der 1970er Jahre können die Zuschauer im Filmhaus aus einer Menükarte die Filme Ihrer Wahl aussuchen.
Anfang 2019 wird in seinem Elternhaus in Morbach/Hunsrück das „Kino HEIMAT“ eingerichtet. Genau an der Stelle, wo Edgar Reitz als Jugendlicher den Kindern aus der Nachbarschaft in einer Garage mit einem handbetriebenen Kinoprojektor Reste von Filmstreifen vorführte, die im örtlichen Kino abgefallen waren, ist das mit 30 Plätzen „kleinste Kino in Rheinland-Pfalz“ entstanden, ausgestattet mit modernster Bild- und Tontechnik.
Kurz vor seinem 90. Geburtstag wird Mitte September 2022 in München die mit großem Aufwand digital restaurierte Neufassung von Die Zweite Heimat uraufgeführt, im Rahmen der Veranstaltung stellt Edgar Reitz auch seine nach zweijähriger Arbeit fertiggestellte Autobiographie Filmzeit, Lebenszeit vor. Gefragt nach weiteren Projekten bekräftigt er, gerne ein Projekt, an dem er schon seit 10 Jahren arbeite, verwirklichen zu wollen.
In Simmern im Hunsrück, der „Heimat der HEIMAT“, wird im November 2022 das Edgar Reitz Filmhaus eröffnet, in dem zahlreiche Requisiten seiner Filme, unter anderem das lange verschollen geglaubte Kriegerdenkmal aus HEIMAT, ausgestellt werden, das aber auch als Lernort und als Begegnungsort für junge Filmschaffende und -begeisterte gedacht ist.
2023 kommt es zu einem Wiedersehen mit Schülerinnen, die 1968 am Münchner Luisengymnasium an seinem Projekt Filmstunde teilgenommen haben. Aus dem „Klassentreffen“ wird der Dokumentarfilm Filmstunde_23, ein engagiertes Plädoyer für die Filmbildung an allgemeinbildenden Schulen.
Im Frühjahr 2024 wird Reitz für sein Lebenswerk mit der Berlinale Kamera geehrt. Im Herbst kann Edgar Reitz sein lange verfolgtes Projekt Leibniz verfilmen.
Edgar Reitz lebt in München nahe dem Englischen Garten und ist seit 1995 mit Salome Kammer verheiratet. Aus seiner ersten Ehe mit Gertraud gingen die Kinder Susanne (* 1956) und Christian (* 1960) hervor, aus einer späteren Beziehung die Tochter Julia (* 1983). 2007 wird die Edgar Reitz Filmstiftung gegründet, deren Zweck „die Förderung der Kunst und Kultur durch die Sammlung und Dokumentation sowie den Erhalt, die Verbreitung und die Pflege des filmischen und literarischen Lebenswerks von Edgar Reitz, sowie die Förderung der allgemeinen Filmbildung und die Unterstützung von Filmprojekten vor allem des filmkünstlerischen Nachwuchses“ ist. Die Edgar Reitz Filmproduktion GmbH (ERFilm) besteht weiterhin. Sie ist assoziiert mit der Firma Reitz Medien seines Sohnes Christian Reitz, die sich unter anderem auf die digitale Restauration alten Filmmaterials spezialisiert hat.
© Thomas Hönemann, erste Veröffentlichung 26.10.2004, letzte Bearbeitung 07.11.2024
Nachdruck oder anderweitige Veröffentlichung – auch in Auszügen – nicht ohne meine schriftliche Genehmigung und nur mit Verweis auf www.heimat123.de.
Ursprünglich zusammengestellt aus eigenem Wissen sowie den folgenden Quellen:
– Peter W. Jansen zum 70sten Geburtstag von Edgar Reitz (NZZ-online)
– Edgar Reitz, Kino. Ein Gespräch mit Heinrich Klotz und Lothar Spree. Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe Band 3, Stuttgart 1994, ISBN 3-89322-650-8
– Edgar Reitz: Heimat 3. Chronik einer Zeitenwende, München (Knaus) 2004, ISBN 3-81350-248-1
– Reinhold Rauh: Edgar Reitz. Film als Heimat, München (Heyne Filmbibliothek) 1993, ISBN 3-453-06911-0