Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

10 Jahre Die andere Heimat (5): Helma und Ernst Hammen

Auch heute geht es in dieser Reihe anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Dreharbeiten zu Die andere Heimat um zwei Menschen, die wie Toni Gerg sehr wesentliche, aufwändige und sehr verantwortungsvolle Aufgaben zumeist hinter den Kulissen übernommen haben, und ohne die der Film nicht zu dem hätte werden kennen, was er ist: Helma und Ernst Hammen. Beide sind den HEIMAT-Projekten von Edgar Reitz im Hunsrück von Beginn an, seit den Geschichten aus den Hunsrückdörfern, aktiv und engagiert verbunden.

Ernst und Helma Hammen © privat

Helma Hammen war wie schon bei Heimat 3 für das Casting der Hunsrücker Laiendarsteller verantwortlich (einen Bericht über ihre damalige Tätigkeit finden Sie hier). Wer nun denkt, es handle sich dabei lediglich um Komparserie, irrt gewaltig. Danke Helmas Engagements konnten auch Hauptrollen wie der „Unkel“ (Reinhard Paulus), der Schmied und Vater der Familie Simon (Rüdiger Kriese) und sogar die Hauptrolle aller Hauptrollen, nämlich Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) besetzt werden – mit Laiendarstellern aus der Region! Für Die andere Heimat hat sie insgesamt 28 Darsteller, ca. 150 Komparsen und 35 Schabbacher (d. s. Bewohner des Dorfes Schabbach, die z. B. als Nachbarn der Simons kontinuierlich auftreten) gecastet. Ihre Erinnerungen hat sie in dem Buch

Hunsrück Casting. Edgar Reitz‘ Film Die andere Heimat und ich (Ingelheim 2015, ISBN 9783945782002)

verarbeitet. Das Buch bietet interessante, unmittelbare Einblicke in die Entstehung des Filmes, enthält aber auch sehr persönliche Elemente, die ihm Tiefe und Authentizität verleihen. [Eine Kurzrezension finden Sie in der Bibliographie.]

Ernst Hammens Zuständigkeitsbereich kann – zumindest schwerpunktmäßig – mit den Worten Flora und Fauna umschreiben werden: Er legte die Felder mit dem mannshohen Roggen und Flachs an, beschaffte die Tiere für den Dreh und übte z. B. mit den Kühen das Ziehen eines Gespanns. Beide zusammen haben sich zudem sehr bei der Motivsuche und für so vieles mehr engagiert.

Sie tauchen auch in kleinen Rollen im Film auf, Helma als Haushälterin des Dorfarztes, Ernst in verschiedenen Szenen, beispielsweise bei der Leckschmierkerb, wo er laut Gernot Roll wie Clint Eastwood in Spiel mir das Lied vom Tod ausgesehen habe.

Schließlich sind auch beide Mitglieder und im Vorstand der Schabbacher Kultur- und HEIMATfreunde e. V. aktiv. Helma bietet Interessierten unter www.heimat-reise.de Führungen zu den Drehorten an und weiß dabei allerhand zu erzählen.

Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Dreharbeiten hat Helma Hammen für die Besucher/innen von heimat123.de einige Passagen aus Ihrem Buch ausgewählt. Ganz herzlichen Dank, liebe Helma!
Auszüge aus Hunsrück Casting. Edgar Reitz‘ Film Die andere Heimat und ich von Helma Hammen.
5. August 2011 – Arbeitsbeginn

Nach unserem wunderschönen Italienurlaub freuten wir uns auch wieder auf Zuhause und vor allem auf Edgar. Am 5. August stand Edgars Besuch an. Mein Gott, war ich aufgeregt! Er kam zu uns mit seinen beiden Begleitern, Toni Gerg, der für die Ausstattung zuständig war, und seinem Sohn Christian Reitz, dem Produzenten. Es wurde sehr, sehr viel besprochen: Es ging um Ackerland, auf dem alte Getreide- oder Kartoffelsorten so angebaut werden sollten wie früher, also auch um das Saatgut für diese Sorten. Weiterhin um mögliche Drehorte mit alten Gebäuden und dann natürlich um die Darsteller!

Dabei standen zunächst die Felder im Vordergrund. Für den Film mussten eigens Äcker angelegt werden. Es war keine leichte Aufgabe, den passenden Ort zu finden, um Roggen, Kartoffeln, Rüben und Flachs so anzubauen wie im 19. Jahrhundert. Auch Platz für eine Wiese wurde gebraucht. Gemeinsam mit Edgar Reitz gingen wir auf die Suche und wurden in unserem Heimatort Schlierschied fündig. Und das erwies sich als ein großer Vorteil, denn hier kannte mein Mann die Bauern und konnte vor Ort dabei sein. Und: Die Bauern unterstützten die Idee!
Doch schon gleich standen wir vor dem nächsten Problem: im 19. Jahrhundert war der Roggen 1,8o Meter hoch und genau diese Pflanzen wollte Edgar für den Film haben. Heute werden alle Getreidearten behandelt, damit sie nicht mehr so hoch wachsen, zu groß ist sonst die Gefahr, dass ein Unwetter die Ernte vernichtet. Im Hunsrück gab es diese Pflanzen längst nicht mehr, ebenso wenig im näheren Umkreis. Nach etlichen Telefonaten hatten wir endlich an der holländischen Grenze Erfolg. Am 3. Oktober 2011 fuhren mein Mann und ich nach Grefrath, um den benötigten alten Roggensamen abzuholen. Zwei Tage später wurde er in die Hunsrücker Erde gesät.

Etliche Drehorte waren noch zu suchen, nur Gehlweiler und Lötzbeuren standen vorerst fest. Ernst und ich sind viel herumgefahren und haben nach Mühlen, Kirchen, alten Gasthäusern und anderen passenden Orten Ausschau gehalten und dabei den Hunsrück mit neuen Augen durchforstet.

Meine Hauptaufgabe aber war es, die Darsteller zu finden: Casting Hunsrück! Wichtig waren vor allem die Rollen Jakob, Gustav, der Schmied, Oma, Lena, Jettchen und Florinchen. Die Rolle der Margarete war bereits besetzt. Edgar hatte sich hier für Marita Breuer entschieden, seiner Hauptdarstellerin aus der ersten Heimat. Also machte ich mich auf die Suche nach den anderen Darstellern. Zum zweiten Mal seit Heimat 3 wurde mein Hobby auf diese Weise zum Beruf. Seit 38 Jahren spiele ich in der Theatergruppe Kirchberg, seit sechs Jahren leite ich zusätzlich eine kleine Theatergruppe. Wir treten bei Geburtstagsfeiern und auch kleinen Veranstaltungen mit Sketchen in Hunsrücker Mundart auf. Außerdem arbeite ich seit fünf Jahren an der Ganztagsschule Gemünden und leite dort die Theater-AG. Ja, Theater ist mein Leben!
24. April 2011 – Der Tod von Toni Gerg

Und dann kam der schwärzeste Tag der Dreharbeiten. Am 24. April war um 7 Uhr Arbeitsbeginn. Ich hatte die ersten Komparsen nach Henau einbestellt. Um 6.50 Uhr, ich wollte gerade aus dem Haus gehen, läutete das Telefon. Oliver Cohn, der Aufnahmeleiter am Set, überbrachte mir die Nachricht, dass unser Toni in dieser Nacht verstorben sei. Bitte allen Komparsen absagen! Ich dachte, ich falle um: Toni tot! Toni, mit dem ich gestern noch gesprochen hatte. Der noch so viele Pläne hatte! Sowohl für sich selbst wie auch für Schabbach. Wie würde er uns fehlen. Wie würde ich sein Bayrisch vermissen! Sein Lachen, seine Tatkraft. Und er war doch erst 47! Kein Alter zum Sterben.

Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, zu funktionieren. Ich hatte wohl schlicht keine Zeit zum Nachdenken. Einige Komparsen habe ich telefonisch noch zu Hause erreicht, andere waren schon auf dem weg nach Henau. Margot kam, um mich abzuholen, und wir fuhren gemeinsam zum Produktionshaus. Ein schwerer Weg! Oliver war dort und rief nach und nach alle Teamleute an, um die schlimme Nachricht zu verbreiten. Wir waren alle wie versteinert. Der Drehtag wurde abgesagt. Nachdem alle benachrichtigt waren, fuhren wir nach Hause. Ernst und ich konnten nicht fassen, was passiert war. Es war so schlimm, wie es schlimmer nicht sein konnte. Konnte der Film jetzt überhaupt noch weitergedreht werden? Ohne Toni? Das war kaum vorstellbar.

Auch heute noch bin ich traurig, wenn ich an diesen schwarzen Tag denke. Etwa zwei Stunden später wurden wir nach Gehlweiler ins Gemeindehaus bestellt. Edgar wollte mit uns allen sprechen. Wie gelähmt saßen wir zusammen und suchten nach einem neuen Weg. Konnte es einen solchen überhaupt geben?

Niedergeschlagen fuhren wir wieder nach Hause. Wie sollte es nur weitergehen? Überraschenderweise bekam ich die Antwort noch am selben Nachmittag von Eva-Maria Schneider (Marie-Goot). Sie sagte: „Vergiss nie: Einer steht vor dir, der dich zieht, und einer steht hinter dir, der dich drückt!“ Es wäre auch Toni gegenüber nicht fair gewesen, aufzuhören. Es steckte doch so viel Mühe, Kraft, Zeit und Arbeit von Toni und seinen Mitarbeitern in diesem Projekt.

Ich bin heute noch dankbar dafür, dass ich Toni kennenlernen durfte.
4. August 2011 – Der große Treck

Ja. wir waren fast am Ende angekommen! Doch standen wir noch vor dem schwierigsten Tag von allen. Am nächsten Tag stand „der große Treck“ in Schlierschied auf dem Programm. 100 Komparsen, 60 Fuhrleute, ca. 50 bis 60 Pferde und 24 Wagen. Mein Gott, was hat mir dieser Tag Sorgen gemacht! Schon im Februar, beim ersten Treck, hatte mir dieser künftige Tag schwer im Magen gelegen. Jetzt stand er unmittelbar bevor. Eine unglaubliche Vorbereitung lag hinter uns. Täglich, wenn die Zeit es zuließ, wurde daran gearbeitet. Nikolai war für die Wagen, Kutscher und Pferde zuständig. Er hat mit Rüdiger Kriese zusammen gute Arbeit geleistet. Alle Wagen wurden auf Tauglichkeit und Sicherheit geprüft. Alle Auswanderer waren eingekleidet! Für diesen einen Tag haben wir auch noch den letzten dünnen Menschen im Hunsrück aufgetrieben. Wir trafen mit Maske und der Kostümabteilung die letzten Vorbereitungen. Als alles fertig war, fuhren wir endlich nach Hause. Die ganze Nacht habe ich überlegt, ob ich nichts vergessen habe. Hoffentlich ging alles gut!

Um 8 Uhr ging es in Henau los. Nach und nach wurden die vielen Menschen eingekleidet. Wer fertig angezogen war, wurde mit dem Shuttlebus zu einem der beiden Basislager gefahren. Es gab Lager A und B. Die Auswandererwagen kamen aus verschiedenen Richtungen. Jeder Komparse wurde seinem Wagen zugeteilt und an seine Basis gefahren. Margot und Heide fuhren zum Basislager A, um dort die Leute zu betreuen, und ich fuhr zum Basislager B. Pferde, Kutschen und viele Menschen liefen herum. An jeder Basis war ein Zelt aufgestellt, in dem die Menschen mit Essen und Getränken versorgt wurden. Alle waren aufgeregt und freuten sich auf den Treck.
Langsam wurden die Pferde unruhig. Hoffentlich ging es bald los! Endlich kam der erlösende Anruf: „Bitte aufstellen“. Die Wagen kamen sternförmig aus drei Richtungen. Auf der Hauptstraße stand der große Treck. Meine Familie startete vom Basislager B aus. Ich ging noch ein Stück mit, um die Aufstellung zu sehen. Die Wagen und Pferde standen in Position. Die Komparsen wurden ihrem Wagen zugewiesen. Alle Kutscher hatten die Anweisung, sollten die Pferde durchgehen, diese immer nach links zu lenken. Alle Komparsen erhielten die Anweisung, bei Gefahr immer nach rechts zu laufen. So kämen sie sich gegenseitig nicht in die Quere. Es war für mich nicht einfach, meine Familie gehen zu lassen: „Bitte passt gut auf euch auf!“ Schweren Herzens musste ich sie ziehen lassen und verlor sie bald aus den Augen. Ich ging zum Basislager B zurück, um die Dinge aus der Ferne zu beobachten. Plötzlich großer Lärm, Staub flog durch die Luft und ein Gespann mit sechs Pferden raste an mir vorbei. Ich konnte im Moment gar nicht fassen, was da passiert war! Die Pferde waren durchgegangen!
Im letzten Moment bekam der Kutscher das Gespann wieder in den Griff, bevor Schlimmeres passieren konnte. Nun war es mit meiner Beherrschung vorbei. Ich heulte, denn ich hatte große Angst um alle, die dabei waren. Am liebsten hätte ich meine Familie wieder herausgeholt. Aber sie waren alle weg. Ich konnte jetzt nur noch beten! Allein, weit weg von allen, saß ich auf einer Anhöhe und sah aus der Ferne zu. Ich betete stundenlang: „Bitte, lieber Gott, lass alles gut gehen.“ Ich glaube ganz fest, dass ich es ohne Gebet sowieso nicht bis zum Schluss geschafft hätte.
Auch jetzt wurde mein Gebet erhört. Ich sah aus weiter Ferne den großen Treck. Wunderbar war es organisiert. Sternförmig reihten sich die Wagen ein. Zweimal wurde die Szene wiederholt: Alle mussten dafür wieder auf ihre Ausgangsposition, was jedes Mal eine ganze Weile dauerte. Aber es klappte! Dann kam der erlösende Anruf „Drehschluss!“ Alles war im Kasten. Vor Erleichterung kamen mir die Tränen. Auch diesen großen Tag hatte ich geschafft! Nun mussten alle Komparsen in der Flur von Schlierschied wieder eingesammelt werden.

Ich fand meine Tochter mit ihrer Filmfamilie auf einem Stein sitzend vor. Sie war begeistert von diesem Tag. Sie erzählte mir, ihrem Gefühl nach sei sie heute wirklich ausgewandert. Man könne nicht beschreiben, wie ergreifend es sei, dabei zu sein. Nun ging es zurück nach Henau. Alle wurden aus ihren Kostümen befreit. Alle waren sehr berührt und es gab Abschiede mit Tränen. Für die Schabbacher war es der letzte Drehtag gewesen. Jeder bedankte sich für die gute Zeit. Es war ein großes Durcheinander und keiner hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Für mich kam jetzt der Moment, in dem es mir zum ersten Mal gut ging. Ja, ich war glücklich, glücklich es geschafft zu haben! Mir war zum Feiern zumute. Rüdiger, Nicole, Ernst und ich sind auf die Kirmes in Henau gegangen, als alle weg waren. Und wieder einmal ging ein anstrengender, erfolgreicher und sehr bewegender Tag zu Ende!
© Helma Hammen. Bitte respektieren Sie ihre Urheberrechte und verwenden Sie diese Auszüge (S. 14-16, 62-64 und 102-105) ausschließlich für private Zwecke.